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Recht und Moral

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bücher und die darauf aufbauenden Kapitularien.104 Diese Hierarchisierung der
Aristokratie konnte also nur gelingen, wenn sie als Bestandteil einer umfassen-
deren Rechtsordnung dargestellt wurde, in der alle Völker des Reichs reprä-
sentiert waren. Die stabilen Beziehungen zwischen Zentrum und Regionen be-
ruhten auf einer naturalisierten Ordnung - der Ordnung der Ethnien und ihrer
Rechtsbücher. Die Unveränderbarkeit der Rechtsbücher, die dem modernen
Verständnis von Recht so sehr widerspricht, war ein wesentlicher Bestandteil der
rechtlich-politischen Ordnung.
Die Handschriften spiegeln diese Verbindungen zwischen Zentrum und
Region wider. Mit welchen Rechtsbüchern die Lex Salica vereint wurde, an
welcher Stelle der Handschrift sie platziert wurde und welche Texte als Anhänge
zur Lex Salica angefügt wurden, ist in fast jedem Fall anders und von den lokalen
Interessen und Bedingungen abhängig. Die Betrachtung der Handschriften, so
vorläufig die Ergebnisse dieses Kapitels auch sein mögen, macht unterschiedli-
che regionale Schwerpunkte fassbar. Gerade die variierende Präsenz von nicht-
fränkischen Rechtsbüchern belegt die regionale Struktur des Frankenreichs im
9. Jahrhundert. Diese Diversität zeigt auch, dass die Handschriften nicht von
unverständigen Mönchen aus antiquarischem Interesse abgeschrieben wurden.
Vielmehr lässt sich an den Veränderungen der Anlage der Kodizes zeigen, wie
sich die Vorstellungen über fränkisches Recht im Lauf des 9. Jahrhunderts ver-
ändert haben. Die Entwicklungen, die in den Kapiteln 6 und 7 aufgrund einer
Analyse der normativen Texte erkennbar wurden, machen sich auch mutatis
mutandis in der Überlieferungsgeschichte bemerkbar: die Ambivalenzen der
Imperialisierung des Frankenreichs nach 800, die Kontinuität zwischen Karl dem
Großen und den ersten Jahren Ludwigs des Frommen, die durch die Sammlung
des Ansegis ausgelöste Verdrängung der Lex Salica und die Trennung von leges
und capitula in der Zeit Karls des Kahlen. Daneben sind durch die Analyse der
handschriftlichen Überlieferung auch andere Entwicklungslinien erkennbar wie
die Bedeutung der merowingischen Edikte als Vorbilder für Karl den Großen
und ihre geringe Relevanz für die späteren Könige.
Doch reichte das Wissen über das Recht für eine moralisch unanfechtbare
Rechtsprechung? Gewiss nicht. Bereits Karl der Große hat die Forderung nach
Rechtskenntnis der Amtsträger ganz eng mit einer moralischen Ermahnung zur
Integrität der Richter verbunden. Ludwig der Fromme setzte diese Bemühungen
um die Gerechtigkeit der Rechtsprechung fort, auch wenn er nicht ausdrücklich
die Priorität des Schriftrechts gegenüber den Gewohnheiten einforderte. Dass
diese Bemühungen zum Teil erfolgreich waren, zeigen die Ergebnisse dieses
Kapitels. Laien wie Eberhard von Friaul, Eckhard von Mäcon, Autramnus und
Lantbert besaßen eine Handschrift der Lex Salica.
Rechtskenntnis konnte aber der moralischen Integrität auch im Weg stehen,
wie uns Hinkmar von Reims in einer Anekdote berichtet. Nach seinen Erfah-
rungen nutzten Grafen und ihre Stellvertreter alle verfügbaren Mittel, um den
Armen auch noch die letzten Vermögenswerte zu entziehen: „Wenn sie nämlich

104 Vgl. Innes, State and Society, S. 188-195; ders., Government, und paradigmatisch für die Region
Bayern: Diesenberger, Predigt und Politik.
 
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