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Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte

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kann aber doch Argumente dafür bereitstellen, eine andere Sicht auf das Ver-
hältnis des 12. Jahrhunderts zu den vorangegangenen Jahrhunderten zu be-
gründen: eine Sicht, in der die Relevanz des frühen Mittelalters für den Wandel
des 12. Jahrhunderts aufgezeigt wird, ohne eine ungebrochene Kontinuität zu
postulieren. Auf den Punkt gebracht besteht diese Relevanz darin, dass politi-
sche Herrschaft über den Verfall der römischen Jurisprudenz hinweg weiterhin
in Kategorien des Rechts und der Gesetzgebung dargestellt wurde. Das „law-
centered kingship" war keine Erfindung des 12. Jahrhunderts.
In eine ähnliche Richtung wies bereits das monumentale Buch über „origins
of the European legal order" (1994/2000) aus der Feder des italienischen
Rechtshistorikers Maurizio Lupoi.12 Nach seiner Auffassung habe vor dem
12. Jahrhundert bereits ein gemeineuropäisches Recht (common law) existiert, das
sich gleichermaßen aus dem römischen Vulgarrecht wie aus dem spätantiken
Kirchenrecht speiste und bis in die Urkundensprache hinein langfristige Wir-
kungen zeitigte. Die Rezeption der Digesten habe dazu geführt, dass dieses
gemeineuropäische Recht schrittweise durch ein neues, wissenschaftliches ius
commune ersetzt worden sei. Der historischen Forschung warf Lupoi vor, eine
nationale Perspektive auf das frühe Mittelalter eingenommen und dabei die
gemeinsamen Grundlagen der Rechtsordnung aus dem Blick verloren zu haben.
Eine Debatte über Lupois Thesen ist wohl deshalb nicht zustande gekommen,
weil das Buch keine historische Kontextualisierung der Quellen vornimmt und
deshalb regionale Unterschiede in der Entwicklung zugunsten seiner generali-
sierenden These einebnet.13
Was Lupoi aber vor allem unterschätzte, ist der Bruch, den die Lex Salica in
der Entwicklung des Rechts im Frankenreich herbeiführte. An der Wende zum
5. Jahrhundert entstand ein neues Modell der Kodifikation. Dieser Bruch ist
dialektisch zu verstehen: Die Lex Salica zeichnete das Sonderrecht der Franken
auf und betonte damit den Gegensatz zur Dominanz des universalen römischen
Rechts der Antike - sie ebnete aber durch die Anbindung des Rechts an die
ethnische Identität den Weg für die Persistenz der normativen Traditionen im
frühen Mittelalter. Kontinuität ist meines Erachtens als Folge dieser Dialektik der
Transformation zu betrachten. Die Lex Salica prägte nicht nur das Verständnis
fränkischer Identität, sie formulierte auch das Modell einer gentilen Rechtsord-
nung. Im Gegensatz zu den anderen Nachfolgereichen des Imperium Romanum
entwickelte sich im Frankenreich keine einheitliche Rechtsordnung, kein
„Reichsgesetzbuch". Vielmehr wurde sukzessive das Modell einer gentilen
Rechtsordnung auf die anderen Völker des Frankenreichs übertragen. Im
7. Jahrhundert entstand die erste Fassung eines Rechtsbuchs für die Alemannen
und vielleicht auch eines für die Baiuwaren. Karl der Große setzte diese
Rechtspolitik fort, indem er auch die Völker der Nordostprovinzen des Fran-
kenreichs mit eigenen Kodifikationen ausstattete: die Thüringer, Sachsen, Frie-
sen und Schwaben. Betrachtet man den Inhalt dieser Rechtsbücher, ist eine kö-
nigliche Rechtspolitik nur am Rande erkennbar. Was vielmehr aufgezeichnet

12 Lupoi, The Origins.

13 Vgl. die Besprechung von Hanna Vollrath in HZ 274 (2002) S. 712-714.
 
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