Der griechische Mythus in den Kunstwerken des Mittelalters.
Von Carl Meyer.
II.
Die zweite Gruppe mythologischer Figuren, die ihrer Bedeutung nach
symbolische, unterscheidet sich von der bisher besprochenen zunächst darin,
dass sie nur ausnahmsweise als Illustration dient. Wir haben dieselben dem-
gemäss weniger in mittelalterlichen Handschriften zu suchen als in und an
den Kirchen, wo sie neben anderen Gestalten von theilweise ähnlicher Be-
deutung Portale, Gapitelle u. dergi. schmücken. Da sie ferner ihrer Mehrzahl
nach zu jenen seltsamen Wesen gehören, welche ihrer körperlichen Erscheinung
nach aus menschlichen und thierischen Bestandtheilen zusammengesetzt sind,
so konnte in den meisten Fällen auch von einer Bekleidung nicht die Rede
sein, am allerwenigsten von einer modischen, dem jeweiligen Zeitgeschmack
angepassten. Damit soll jedoch nicht geleugnet werden, dass sich in Auffas-
sung und Darstellung dieser Wesen dennoch mehr der Geist des Mittelalters
als der der Antike spiegelt. Die wichtigsten und zugleich am häufigsten nach-
weisbaren unter den hierher gehörigen Geschöpfen sind die Sirene und der
Kentaur; andere mehr vereinzelt auftretende Gestalten von ähnlicher Beschaffen-
heit mögen sich zum Schluss an diese beiden Hauptclassen reihen.
Die antike Sirene war ursprünglich ein mit der Gabe des Gesanges
ausgestattetes Weib von schönem verlockendem Aussehen. Die vogelartige
Beschaffenheit des Unterleibes tritt bei Homer noch nicht hervor, wohl aber
bei späteren Schriftstellern des Alterthums. Auch von musikalischen Instru-
menten ist anfänglich nicht die Rede, indem der im homerischen Zeitalter
übliche epische Gesang zur Begleitung höchstens die Phorminx, diese aber
nur in den Händen von Männern voraussetzt. Erst als der lyrische Gesang
an die Stelle des epischen trat, wurden die Instrumente, zumal Lyra und Flöte,
üblicher, und in dieser Zeit werden wohl auch die Sirenen zuerst mit solchen
ausgestattet worden sein 33). Für die Plastik wäre die Darstellung singender
33) Neue Jahrbücher f. Philol. u. Pädagogik, Jahrg. 39. Bd. 99 (1869), S. 317.
Vgl. auch Kastner, J. G., Les Sirenes. Paris 1858.
XII 17
Von Carl Meyer.
II.
Die zweite Gruppe mythologischer Figuren, die ihrer Bedeutung nach
symbolische, unterscheidet sich von der bisher besprochenen zunächst darin,
dass sie nur ausnahmsweise als Illustration dient. Wir haben dieselben dem-
gemäss weniger in mittelalterlichen Handschriften zu suchen als in und an
den Kirchen, wo sie neben anderen Gestalten von theilweise ähnlicher Be-
deutung Portale, Gapitelle u. dergi. schmücken. Da sie ferner ihrer Mehrzahl
nach zu jenen seltsamen Wesen gehören, welche ihrer körperlichen Erscheinung
nach aus menschlichen und thierischen Bestandtheilen zusammengesetzt sind,
so konnte in den meisten Fällen auch von einer Bekleidung nicht die Rede
sein, am allerwenigsten von einer modischen, dem jeweiligen Zeitgeschmack
angepassten. Damit soll jedoch nicht geleugnet werden, dass sich in Auffas-
sung und Darstellung dieser Wesen dennoch mehr der Geist des Mittelalters
als der der Antike spiegelt. Die wichtigsten und zugleich am häufigsten nach-
weisbaren unter den hierher gehörigen Geschöpfen sind die Sirene und der
Kentaur; andere mehr vereinzelt auftretende Gestalten von ähnlicher Beschaffen-
heit mögen sich zum Schluss an diese beiden Hauptclassen reihen.
Die antike Sirene war ursprünglich ein mit der Gabe des Gesanges
ausgestattetes Weib von schönem verlockendem Aussehen. Die vogelartige
Beschaffenheit des Unterleibes tritt bei Homer noch nicht hervor, wohl aber
bei späteren Schriftstellern des Alterthums. Auch von musikalischen Instru-
menten ist anfänglich nicht die Rede, indem der im homerischen Zeitalter
übliche epische Gesang zur Begleitung höchstens die Phorminx, diese aber
nur in den Händen von Männern voraussetzt. Erst als der lyrische Gesang
an die Stelle des epischen trat, wurden die Instrumente, zumal Lyra und Flöte,
üblicher, und in dieser Zeit werden wohl auch die Sirenen zuerst mit solchen
ausgestattet worden sein 33). Für die Plastik wäre die Darstellung singender
33) Neue Jahrbücher f. Philol. u. Pädagogik, Jahrg. 39. Bd. 99 (1869), S. 317.
Vgl. auch Kastner, J. G., Les Sirenes. Paris 1858.
XII 17