ofters Ulenspiegel?
Nicht ohne cine gewiffe Verlcgenheil gcht der Schreiber
dieser Zeilen daran, über cine bcdeukcnde Dichtung Bericht zu
erstattcn, die ihn oft genug innerlich tief bcrührt hat, obwohl er
doch den letzten bezwingenden Zusammenklang, dic schlechthin
cndgültige Synthcse vcrmißte, sodaß ihm unzählige unvergeßliche
Einzelheiten im Gcdächtnis geblicben sind, während er von dem
Ganzen kcine völlig klare Vorstcllung hat. In solchen Fällcn
ciner besonders komplizierten Situation kann cs so gut am Lcser
licgen, wic am Buch — und manchmal licgt es an beidem —,
wenn ein absolut reincr Eindruck nicht zustande kommt, und ich
muß von vornherein davor warnen, dicses unvcrmeidliche sub-
jektive Moment meiner Besprechung nicht zu uirterschätzen.
Aunächst wird cS notwendig scin, das Gute und Großc im
Werk des flämisch-französischen Dichters zu bctonen, worin sich
seine gestaltcnde Kraft über allen Aweifel erhaben zeigt. Wir
bcfinden uns im sechzehnten Iahrhundert der Iieformation, und
jcne erregte Aeit wick manche Erscheinungen dcs Seclcnlebens
auf, die an modernc Nervenkrisen und moderne impressionistische
Phantastik erinnern könnten. Aber diese psychologische Disposition
war sich noch nicht, wic heute, ihrcs durchaus subjektiven Charakters
bcwußt, sondcrn schricb ihren Austand objektivcn Mächten z», den
Teufeln und Dämoncn. Da haben wir beispielsweise die armc
Kathcline, cine Frau aus dem Kleinbiirgerstand, aber von einer
ungcwöhnlichen Begabung, Phantasie und Erregbarkeit, einc jencr
poetischcn Hysterikerinnen, die recht eigentlich das Martyrium des
weiblichen Gcschlcchtcs zu Ausdruck bringen. Natürlich liebt sie,
und zwar keinen Geringercn als den Teufel, der sie nächtlichcr-
weile als schwarzer Ritter besucht. Selbstverständlich ist cs ein
Betrug, und die lcichtgläubige Katheline wird von einem ritter-
lichen Abenteurer mißbraucht, dem sie ihr Vermögen opfert, und
dem zulicbe sie zur Betrügerin und zur Wahnsinnigen wird, da
sie in den Verdacht dcr Aauberci gerät und die Foltcr erleidet,
wobci sie den Verstand verliert. Und zulctzt verliert sie um
seinctwillen sogar das Lebcn, wenn auch der bösartige Ver-
füyrer seinem Schicksal ebenfallS nicht entgeht und als über-
wiesener „Aauberer" in den Flammen endet. Hier nun erweist
sich die große und ganz ursprünglichc Kunst des Dichters, der
daS Unheimliche, das dicse Situation für geistergläubigc Menschen
des sechzehnlen Iahrhunderts hatte, festzuhalten und zu vertiefen
weiß, obgleich «r doch den scheinbar rationalistischen wirklichen
Sachvcrhalt rücksichtslos aufdeckt. An die Stelle der Gcister ist
cbcn die noch unheimlichere Dämonie der Nerven, dcr Triebe und
deS GeschlcchtSlebens getreten. Der Dichter analysiert nicht und
erzählt auch nicht eigentlich, sondcrn er bcschwört durch skizzenhaft
impressionistische Andeutung die Atmosphäre hcrauf, die ganze
schwüle Stimmung cines unterirdischen seelischen Kampses zwischen
zwei Menschcn und zwei Geschlechtern, und wir laffen uns dcs-
halb den ganzcn mittelalterlichen Aauberspuk nicht nur gefallen,
sondcrn wir cmpfinden ihn als die durchaus cntsprechende Cin-
kleidung für dicse furchtbare» Ereigniffe. Das Wcrtvolle dicscr
großen Kunst beruht aber darin, daß dieser Dichter nicht nur
unsere Nerven zu treffen weiß, fondern auch unser Herz. Wir
empfinden ein tiefes Erbarmen mit einer Frau, dic am Cnde doch
nur mit unbekümmertcm Mut und schlichter weiblicher Aufopfe-
rungsfühigkeit ihrem Gefühl und ihrer Liebe folgt. Dieses Mensch-
liche im Bunde mit cinem fast raffinierten Impressionismus
scheint mir das eigentliche Merkmal der Costerschen Dichtung zu
fein, und dadurch ist cr imstande, seinen Lcfern das Äußerste zu
bieten. Er schildert Aberglauben, Grausamkeit, furchtbare Folte-
rungen der Gefangencn und den grausigen Tod, dcn der wackere
Klas, der Vater des Ulenspiegel, auf dem Scheiterhaufcn erduldet,
wcil er trotz aller natürlichen Furcht seinem Glauben treu bleibt.
Unsere Nerven werden nicht geschont. Aber da sich Coster nicht
in naturalistischen Einzelhciten vcrlicrt, sondern nur den Gesamt-
cindruck atmosphärisch zufammenballt, so werden wir nicht unler
der Last der schlimmen Ercigniffe erdrückt, und dem Gcmüt bleibt
jcne Freiheit, ohne die ein künstlerischer Genuß unmöglich wäre.
Um so mchr blcibt uns dicse Freiheit, weil die cdle Menschlichkeit
deS DichterS überall durchbricht. WaS für eine herrliche Gcstalt
"'Charles dc Coster: Tyll Ulenspiegcl und Lamm
Goedzak. Lcgcndc von ihren heroischen, lustigen und ruhmrcichcn
Abenteuern im Lande Flandcrn und andercn OrtS. Deutsch von
Friedrich von Oppeln-BronikowSki. Mit Nachwort des Uber-
setzerS. Verlegt bei Cugen Diederichs 190).
ist scin Klas, dicser einfache Mensch, der in der Stunde dcr
Todesnot so heldenhaft und so ohne alle Pose zu lkerben weiß!
Neben dem Crnst kommt der Lebcnsgenuß zu seinem Necht,
und hier ist die andere Seite dcr Dichtung, die quantitativ sogar
dcn Hauptteil einnimmt. Tyll Ulenspicgel bleibt seiner Nele,
der jungen Tochtcr der armen Katheline, frcilich im innersten
Herzen treu, was ihn aber nicht hindert, jedem Dirnchen nach-
zulaufen und über die Aäunc nachzuklettern und sich auch in
einem ganzen Rudel von Dirnen herzlich wohlzufühlcn. Hicr
herrscht die Leichtigkeit des ssprit Kaulois, und es bleibt zu be-
dauern, daß der Uberseher nicht die archaisierende, an Rabelais
geschulte Sprache des DichterS in einer entsprechenden deutschen
Diktion wiedcrzugeben vermochte. Sicherlich ist dadurch manches
»erloren gegangen, und »ielleicht rührt es daher, daß cs mir
vorkommt, als ob der Humor deS Dichters etwas LiterarischeS
hat, als ob er nur dcm Programm zulicbe auch noch diese Seite
dcs flandrischen Volkslebens so überaus eingehend behandelt hat.
Trotz aller graziösen Keckheit vermag cr eine sehr sensible Melan-
cholie nirgends zu vcrbergcn, die wie ein Schleier über den
heiterstcn Dingcn ausgebrcitct liegt. Immerhin ist diese Mischung
von eincm besondcren Reiz, und sie gibt den hellen Hintergrund
ab für jcne düsteren und gewaltigen Szencn, auf dic vorhin gc-
deutet wurde. Auch hier bewahrt die atmosphärische und im-
pressionistische Art den Dichter vor allzuviel Dctail, das sonst
gar leicht in den Schmutz führcn könnte, den seinc leichtcn Svhlen
jetzt nur flüchtig berührcn-
Aber dieser wunderbare Künstler und echte und manchmal
große Dichter ist kein Epiker, kcin Erzählcr, und er ist cben darum
mit seinem Stoff nicht so organisch verwachscn, wie die Wurzcl
mit dcr Crdc. Auch in seincm geliebtcn flämischen Boden hat
er nicht Wurzcl geschlagen, wcnn er auch innerhalb der heimat-
lichen Luftschicht verharrt wie ein ruhcloser, stels im selbcn Um-
kreis unrherirrender Vogel. Man hat von seinem Germancntum
gesprochcn, und sein Buch soll die Bibel der Flamen sein, gleichsam
ihr nationales EpoS. Ein Körnchcn Wahrheit ist in dicscr Über-
trcibung enthalten, die im übrigen auf eincm großen Mißvcrständnii
beruht. Ach nein, de Coster war moderner Jndividualist bis in
dic Fingerspitzen, und cr schöpfte auS den Schreckniffen und Erlcb-
niffcn seiner Seele und wohl auch seincr Nerven. Nur daß bei
ihm noch ein ethisches Gegengewicht vorhanden war, cine Sehn-
sucht wenigstens nach dem Volkstum, nach ciner Gemcinschaft,
aus dcr sein innerer Dämon ihn eigentlich auSstieß. „Dämonischer
Idylliker" wäre vicllcicht die richtige Formel fllr ihn, um sein
Bcdürfnis nach eincm umschränkten Dasein zu bczeichnen, das
doch von den untcrirdischcn Gewalten fcincS Wesens inncrlich
untcrwühlt wurde. Für ihn war daS Flamcntum, wak für
Nouffeau die „Natur" war oder für Nietzsche der Übermenfch.
So ist es kein Wunder, wenn cr den eigcntlichen Kern des ge-
waltigen niederländischen Frciheitskampfes nicht alS gcschichtlicher
Epiker herausgestaltet hat, und wenn er überhaupt statt dcr Crzäh-
lung nur Skizze und Atmosphärc zu geben vcrmochtc: — freilich,
was für eine Atmosphäre! Und auch Tyll Ulenspiegel leidet
durch diese Awiespältigkcit im Wesen scines Schöpfers. Dicser
Tyll — ungeachtet einer Fülle von fcinen Cinzclhciten — ist nicht
mehr die alte volkstümliche Figur, und er ist noch nicht cin neucr
geistiger Typus, wie etwa, um glcich größte Beispiele zu wählcn,
Faust und Zarathustra. Das ist und bleibt dic Schrankc, dic
der geniale Flamc nicht überschritten hat. Cs ist in der Ordnung,
daß die modernen Impressionisten von ihrem Ahnherrn entzückt
sind, der ihnen als Künstlcr mehr als cbenwertig ist, zugleich
aber den Vorteil vorauS hat, daß ihn ein letztes Gefühl für daS
Volkstum vor einer letzten Aersctzung bewahrt und ihm eine Syn-
thesc ermöglicht, soweit sie dem Jmpressionismus beschieden ist.
Man darf es begrüßen, daß dicsc wertvollc Dichtung von eincm
guten Übersetzer vcrdeutfcht wurde, und man muß bcdauern, daß
es nicht schon vor zehn Iahren geschah. Heute, wo wir wieder
zu echtcr Epik hinwollen, könntc dicseS verführcrischc Beispicl für
manches Talent vcrhängrrisvoll werden. Aber solche entgegen-
gesetzten Wirkungen sind das Schicksal bedeutender Wcrke.
M
yö Dörfli?
Samuel Lublinski.
Die Haupttugend dcs Dialektdichters örtlicher Be-
deutung liegt eigentlich außerhalb seiner Person und besteht in
der Bodenständigkeit seiner Herkunft. Die Mundart, die ihm im
" Von C. A. Loosli, mit Buchschmuck von C. Linck. (Ver-
lag A. Franckc, Bern, 1910. 2 Fr.)
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Nicht ohne cine gewiffe Verlcgenheil gcht der Schreiber
dieser Zeilen daran, über cine bcdeukcnde Dichtung Bericht zu
erstattcn, die ihn oft genug innerlich tief bcrührt hat, obwohl er
doch den letzten bezwingenden Zusammenklang, dic schlechthin
cndgültige Synthcse vcrmißte, sodaß ihm unzählige unvergeßliche
Einzelheiten im Gcdächtnis geblicben sind, während er von dem
Ganzen kcine völlig klare Vorstcllung hat. In solchen Fällcn
ciner besonders komplizierten Situation kann cs so gut am Lcser
licgen, wic am Buch — und manchmal licgt es an beidem —,
wenn ein absolut reincr Eindruck nicht zustande kommt, und ich
muß von vornherein davor warnen, dicses unvcrmeidliche sub-
jektive Moment meiner Besprechung nicht zu uirterschätzen.
Aunächst wird cS notwendig scin, das Gute und Großc im
Werk des flämisch-französischen Dichters zu bctonen, worin sich
seine gestaltcnde Kraft über allen Aweifel erhaben zeigt. Wir
bcfinden uns im sechzehnten Iahrhundert der Iieformation, und
jcne erregte Aeit wick manche Erscheinungen dcs Seclcnlebens
auf, die an modernc Nervenkrisen und moderne impressionistische
Phantastik erinnern könnten. Aber diese psychologische Disposition
war sich noch nicht, wic heute, ihrcs durchaus subjektiven Charakters
bcwußt, sondcrn schricb ihren Austand objektivcn Mächten z», den
Teufeln und Dämoncn. Da haben wir beispielsweise die armc
Kathcline, cine Frau aus dem Kleinbiirgerstand, aber von einer
ungcwöhnlichen Begabung, Phantasie und Erregbarkeit, einc jencr
poetischcn Hysterikerinnen, die recht eigentlich das Martyrium des
weiblichen Gcschlcchtcs zu Ausdruck bringen. Natürlich liebt sie,
und zwar keinen Geringercn als den Teufel, der sie nächtlichcr-
weile als schwarzer Ritter besucht. Selbstverständlich ist cs ein
Betrug, und die lcichtgläubige Katheline wird von einem ritter-
lichen Abenteurer mißbraucht, dem sie ihr Vermögen opfert, und
dem zulicbe sie zur Betrügerin und zur Wahnsinnigen wird, da
sie in den Verdacht dcr Aauberci gerät und die Foltcr erleidet,
wobci sie den Verstand verliert. Und zulctzt verliert sie um
seinctwillen sogar das Lebcn, wenn auch der bösartige Ver-
füyrer seinem Schicksal ebenfallS nicht entgeht und als über-
wiesener „Aauberer" in den Flammen endet. Hier nun erweist
sich die große und ganz ursprünglichc Kunst des Dichters, der
daS Unheimliche, das dicse Situation für geistergläubigc Menschen
des sechzehnlen Iahrhunderts hatte, festzuhalten und zu vertiefen
weiß, obgleich «r doch den scheinbar rationalistischen wirklichen
Sachvcrhalt rücksichtslos aufdeckt. An die Stelle der Gcister ist
cbcn die noch unheimlichere Dämonie der Nerven, dcr Triebe und
deS GeschlcchtSlebens getreten. Der Dichter analysiert nicht und
erzählt auch nicht eigentlich, sondcrn er bcschwört durch skizzenhaft
impressionistische Andeutung die Atmosphäre hcrauf, die ganze
schwüle Stimmung cines unterirdischen seelischen Kampses zwischen
zwei Menschcn und zwei Geschlechtern, und wir laffen uns dcs-
halb den ganzcn mittelalterlichen Aauberspuk nicht nur gefallen,
sondcrn wir cmpfinden ihn als die durchaus cntsprechende Cin-
kleidung für dicse furchtbare» Ereigniffe. Das Wcrtvolle dicscr
großen Kunst beruht aber darin, daß dieser Dichter nicht nur
unsere Nerven zu treffen weiß, fondern auch unser Herz. Wir
empfinden ein tiefes Erbarmen mit einer Frau, dic am Cnde doch
nur mit unbekümmertcm Mut und schlichter weiblicher Aufopfe-
rungsfühigkeit ihrem Gefühl und ihrer Liebe folgt. Dieses Mensch-
liche im Bunde mit cinem fast raffinierten Impressionismus
scheint mir das eigentliche Merkmal der Costerschen Dichtung zu
fein, und dadurch ist cr imstande, seinen Lcfern das Äußerste zu
bieten. Er schildert Aberglauben, Grausamkeit, furchtbare Folte-
rungen der Gefangencn und den grausigen Tod, dcn der wackere
Klas, der Vater des Ulenspiegel, auf dem Scheiterhaufcn erduldet,
wcil er trotz aller natürlichen Furcht seinem Glauben treu bleibt.
Unsere Nerven werden nicht geschont. Aber da sich Coster nicht
in naturalistischen Einzelhciten vcrlicrt, sondern nur den Gesamt-
cindruck atmosphärisch zufammenballt, so werden wir nicht unler
der Last der schlimmen Ercigniffe erdrückt, und dem Gcmüt bleibt
jcne Freiheit, ohne die ein künstlerischer Genuß unmöglich wäre.
Um so mchr blcibt uns dicse Freiheit, weil die cdle Menschlichkeit
deS DichterS überall durchbricht. WaS für eine herrliche Gcstalt
"'Charles dc Coster: Tyll Ulenspiegcl und Lamm
Goedzak. Lcgcndc von ihren heroischen, lustigen und ruhmrcichcn
Abenteuern im Lande Flandcrn und andercn OrtS. Deutsch von
Friedrich von Oppeln-BronikowSki. Mit Nachwort des Uber-
setzerS. Verlegt bei Cugen Diederichs 190).
ist scin Klas, dicser einfache Mensch, der in der Stunde dcr
Todesnot so heldenhaft und so ohne alle Pose zu lkerben weiß!
Neben dem Crnst kommt der Lebcnsgenuß zu seinem Necht,
und hier ist die andere Seite dcr Dichtung, die quantitativ sogar
dcn Hauptteil einnimmt. Tyll Ulenspicgel bleibt seiner Nele,
der jungen Tochtcr der armen Katheline, frcilich im innersten
Herzen treu, was ihn aber nicht hindert, jedem Dirnchen nach-
zulaufen und über die Aäunc nachzuklettern und sich auch in
einem ganzen Rudel von Dirnen herzlich wohlzufühlcn. Hicr
herrscht die Leichtigkeit des ssprit Kaulois, und es bleibt zu be-
dauern, daß der Uberseher nicht die archaisierende, an Rabelais
geschulte Sprache des DichterS in einer entsprechenden deutschen
Diktion wiedcrzugeben vermochte. Sicherlich ist dadurch manches
»erloren gegangen, und »ielleicht rührt es daher, daß cs mir
vorkommt, als ob der Humor deS Dichters etwas LiterarischeS
hat, als ob er nur dcm Programm zulicbe auch noch diese Seite
dcs flandrischen Volkslebens so überaus eingehend behandelt hat.
Trotz aller graziösen Keckheit vermag cr eine sehr sensible Melan-
cholie nirgends zu vcrbergcn, die wie ein Schleier über den
heiterstcn Dingcn ausgebrcitct liegt. Immerhin ist diese Mischung
von eincm besondcren Reiz, und sie gibt den hellen Hintergrund
ab für jcne düsteren und gewaltigen Szencn, auf dic vorhin gc-
deutet wurde. Auch hier bewahrt die atmosphärische und im-
pressionistische Art den Dichter vor allzuviel Dctail, das sonst
gar leicht in den Schmutz führcn könnte, den seinc leichtcn Svhlen
jetzt nur flüchtig berührcn-
Aber dieser wunderbare Künstler und echte und manchmal
große Dichter ist kein Epiker, kcin Erzählcr, und er ist cben darum
mit seinem Stoff nicht so organisch verwachscn, wie die Wurzcl
mit dcr Crdc. Auch in seincm geliebtcn flämischen Boden hat
er nicht Wurzcl geschlagen, wcnn er auch innerhalb der heimat-
lichen Luftschicht verharrt wie ein ruhcloser, stels im selbcn Um-
kreis unrherirrender Vogel. Man hat von seinem Germancntum
gesprochcn, und sein Buch soll die Bibel der Flamen sein, gleichsam
ihr nationales EpoS. Ein Körnchcn Wahrheit ist in dicscr Über-
trcibung enthalten, die im übrigen auf eincm großen Mißvcrständnii
beruht. Ach nein, de Coster war moderner Jndividualist bis in
dic Fingerspitzen, und cr schöpfte auS den Schreckniffen und Erlcb-
niffcn seiner Seele und wohl auch seincr Nerven. Nur daß bei
ihm noch ein ethisches Gegengewicht vorhanden war, cine Sehn-
sucht wenigstens nach dem Volkstum, nach ciner Gemcinschaft,
aus dcr sein innerer Dämon ihn eigentlich auSstieß. „Dämonischer
Idylliker" wäre vicllcicht die richtige Formel fllr ihn, um sein
Bcdürfnis nach eincm umschränkten Dasein zu bczeichnen, das
doch von den untcrirdischcn Gewalten fcincS Wesens inncrlich
untcrwühlt wurde. Für ihn war daS Flamcntum, wak für
Nouffeau die „Natur" war oder für Nietzsche der Übermenfch.
So ist es kein Wunder, wenn cr den eigcntlichen Kern des ge-
waltigen niederländischen Frciheitskampfes nicht alS gcschichtlicher
Epiker herausgestaltet hat, und wenn er überhaupt statt dcr Crzäh-
lung nur Skizze und Atmosphärc zu geben vcrmochtc: — freilich,
was für eine Atmosphäre! Und auch Tyll Ulenspiegel leidet
durch diese Awiespältigkcit im Wesen scines Schöpfers. Dicser
Tyll — ungeachtet einer Fülle von fcinen Cinzclhciten — ist nicht
mehr die alte volkstümliche Figur, und er ist noch nicht cin neucr
geistiger Typus, wie etwa, um glcich größte Beispiele zu wählcn,
Faust und Zarathustra. Das ist und bleibt dic Schrankc, dic
der geniale Flamc nicht überschritten hat. Cs ist in der Ordnung,
daß die modernen Impressionisten von ihrem Ahnherrn entzückt
sind, der ihnen als Künstlcr mehr als cbenwertig ist, zugleich
aber den Vorteil vorauS hat, daß ihn ein letztes Gefühl für daS
Volkstum vor einer letzten Aersctzung bewahrt und ihm eine Syn-
thesc ermöglicht, soweit sie dem Jmpressionismus beschieden ist.
Man darf es begrüßen, daß dicsc wertvollc Dichtung von eincm
guten Übersetzer vcrdeutfcht wurde, und man muß bcdauern, daß
es nicht schon vor zehn Iahren geschah. Heute, wo wir wieder
zu echtcr Epik hinwollen, könntc dicseS verführcrischc Beispicl für
manches Talent vcrhängrrisvoll werden. Aber solche entgegen-
gesetzten Wirkungen sind das Schicksal bedeutender Wcrke.
M
yö Dörfli?
Samuel Lublinski.
Die Haupttugend dcs Dialektdichters örtlicher Be-
deutung liegt eigentlich außerhalb seiner Person und besteht in
der Bodenständigkeit seiner Herkunft. Die Mundart, die ihm im
" Von C. A. Loosli, mit Buchschmuck von C. Linck. (Ver-
lag A. Franckc, Bern, 1910. 2 Fr.)
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