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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 19.1910

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Heft 6
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Bacmeister, Ernst: Vom Wert der Lüge
DOI Artikel:
Benedix, Peter: Wie Johannes Sälzle zu keiner Frau kam: eine Erzählung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26462#0217

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fahrung gemäß mitemander verbindet und sie vor sich
selber in dieser erfahrenen Verbmdung unverbrüchlich
beläßt; denn dann wird sie mit ihrem subjektivcn Jnhalt
immer ebenso wirklich, bestehensmöglich und bestehens-
sicher sein wie die objektive Welt selber. Jede Lüge
nun aber, wobei Erfahreneö geleugnet wird, erzeugt
eine Jnkongrucnz zwischen unserer Seele und der Welt,
indem in uns etwas als nichtbestehend behandelt wird,
was außer uns besteht. Und diese bloße Jnkongruenz
steigert sich zur Gegcnsätzlichkcit, wenn wir die durch
ein leugnendes Nein entstandene Wirklichkeitslücke auf
unserer Seite auch noch mit dem falschen Ia irgend
eines Schwindels ausfüllen, also mit einer Pseudo-
wirklichkeit, die uns selbst zum Macher hat. Angenommen
nun auch, es wäre einer unerschöpflichen Phantasie
möglich, diesen Schwindel zu ciner ganzen pseudowirk-
lichen Welt auszuspinnen und cinen unbegrenzten inneren
Zusammenhang, also eine Seele, ohne korrespondierende
Erfahrung herzustellen, em ideales Älibi zu erdichten, —
so würde damit doch die wirkliche Welt nicht zugleich
weggeschwindelt sein. Sie würde sich um so siegreicher
dazwischendrängen, als sie ununterbrochen von selber und
ohne Bemühung dcr Phantasie durch die Sinne hin-
durch zu „Seele" wird. Und so würde eine innere
Doppelheit entstehen, ncben der Fausts „zwei Seelen in
einer Brusi" als ein Kinderspiel crscheinen. Mit andercn
Worten: kcin Mensch würde es vermögen, sich unab-
hängig von der äußeren Wirklichkeit innerlich ausreichend
zu konftituieren und in vollendeter Disharmonie mit
der Welt zu existieren. Würde ihn die Welt etwa auch
ertragen, so würde er sich selber doch nicht ertragen.

Das Vorgefühl dieser Unmöglichkeit läßt den seineren
Menschen, der zentral empfindlich und dazu veranlagt
ist, aus sich selber auszumerken, schon beim erften be-
wußten Erleben der Lüge über ihr bedrohliches Wesen
erbeben und ihn in ihr die Zerstörerin seiner seelischen
Einheit, nämlich seines einheitlichen inneren Zusammen-
hangcs ahnen. Von weiterer Erfahrung genährt wird
diese Ahnung, daß es sich bei jeder Lüge um ein Zer-
reißen des eigenen Sclbst handelt, um eine Beschädigung
der Gesundheit der Scele, die aus ihrem rein positiven,
wirklichkeitsgemäßen Zusammenhang beruht: - wir sagen,
diese Ähnung wird sich in dem Menschen des höheren
Selbstbewußtseins mehr und mehr zu Wissen wandeln
und er wird sich cincs Tages, jenseitö aller moralischen
Bedenken, einfach um der erkannten Sicherheit seiner
innrren Existenz willen, entschließen müffen, weil konse-
quent zu lügen unmöglich ift, konsequent wahr zu sein.
Äber zu diesem sreien Entschluß und wohlbewußten
Willen zur Wahrheit oder vollkommenen inneren Wirk-
lichkeit konnte er nicht gelangen ohne die Erfahrung der
inneren Unwirklichkeit. Also liegt der Wert der Lüge
in dem, was durch ihre Überwindung gewonnen wird.

Wer dagegen in der Lüge steckcn bleibt, weil ihm
der Sinn für seine Seele fehlt, - der ist, was er zeitlich
und endlich etwa auch durch Witzes Krast erreichen
mag, vor der Ewigkeit und Unendlichkeit abgetan und
ausgeschlossen, und ist in sich selbst verdammt als ein
Wesen, das scin inneres Entwickelungsziel nicht er-
reichte, — als ein Mensch, der es versehlte, sich mit
Gott in Harmonie zu setzen und dadurch sich selber zu

Dom Wert der Liige.

vergöttlichen und zu verewigen. Denn eö ist wohl zu
glauben, daß nur derjenige unter uns eine göttliche
und ewige Seele errungen hat, der sich mit der un-
endlichcn Wirklichkeit, mit dem Zusammenhang von
allem in allem, das heißt eben mit Gott, bewußt in
llbereinstimmung gebracht hat.

Unbewußt und unwillkürlich nämlich war diese Über-
cinstimmung für jcden von unö schon einmal vorhanden:
in frühester Kindheit, ehe wir Witz genug besaßen, um
zu lügen. Aber auch kaum über das Säuglingsalter
hinaus bewahrt sich in uns diese erste Unschuld, die
mit der Unschuld der Steine auf gleicher Stufe stände,
wenn sie nicht die Möglichkeit der Schuld in sich trüge.
Und darum handelt es sich nun, daß diese Möglichkeit
crfahren, erkannt und ausgetilgt wird, wodurch erst die
andere, höhere Unschuld gewonnen wird. Die reine
Scele ist nur der Anfang, das Ende ist die ge-
reinigte Seele. Ein dunkler Engel - von den
gefallenen einer, aber eben doch ein Engel! — führt den
Menschen zu seiner menschlichen Vollendung in Gott
durch die Wüfte der Welt von einem Paradies hinaus
zum andern. — Hinaus! — darin liegts, waö die Lüge
wertvoll macht.

Sollte nun aber jemand hingehen und eigens und
absichtlich lügen, um sich denn also durch die Lüge zu
vollendcn: — der wäre ein herziger Narr, mit dem
wir ein andermal reden möchten.

Ernst Bacmeister.

ie Iohanms Sälzle

zu kemer Frau kam.

Eine Erzählung von Peter Jerusalem.

Zu Hettigenbeuern lebte gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts, still und seiner Pflicht ergeben, der Lehrer
ZohanneS Sälzle. Er unterrichtete seme Kinder in der
Furcht des Herrn, leitete den Männergesangverein Har-
nwnie und hatte eine gute Flasche Wein in seinem
Keller. Verheiratet war er nicht, und seine ganze
Familie bestand aus einem Harmonium, eincm Kanarien-
weibchen und einem Dompfaffen, welche drei in einem
Winkel des Iimmers jedes aus seine Art ihre Musik
machten. Viel brachte das Kanarienweibchen sreilich
nicht zuwege, zumal seit sein rechtmäßiger Gatte an
einem schönen Sommertage durch das offene Fenster
davongeflogen und an seine Stelle der alte Dompfaff
gerückt war, der als mürrischer Junggeselle auf seiner
Stange saß und kein Verständnis für die höslichen
Verbeugungen und zärtlichen Annäherungen der ver-
lassenen Witwe hatte.

Diese neue und seltsame Ehe, die Herr Iohanncs
hier zusammengefügt, betrachtete er oft und nachdenk-
lich, wobei er am Ende immer zu dem Schlusse kam,
daß der Dompfaff doch unrecht tue, denn er war noch
selber in dem schönen Alter, wo man liebcnöwürdige
Frauen gerne sieht. Daß er bis zu diesem Ieitpunkte
noch keine unter ihnen heimgeführt hatte, lag teils an
seiner llnentschlossenheit, teils an seinem kritischen Wesen,
daS zuletzt immer irgcnd cinen bedeutenden Mangel an
 
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