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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern — Wien, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.1272#0047
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• 2 ARCHITEKTUR.

desselben) angebracht erscheint; der Beschauer wird dadurch veranlasst, sich die fehlende
Hälfte (oder drei Viertel) in Gedanken zu ergänzen und die Reihe in der Ebene ins Unendliche
fortzusetzen. Als Beispiel hiefür ist in der Mitte von Fig. 6 eine in purpur, weiß, grün und gelb
gewirkte Borde von einer in Egypten gefundenen Leichentunica (jetzt im k. k. Österreichischen
Museum in Wien) abgebildet, mit einem complicierteren Streumuster, das mit seiner Abwechslung
von größeren Blumenmotiven und gleichsam einen netzartigen Untergrund bildenden kleineren
Ornamenten bereits zur Massencomposition überleitet, aber immerhin mit seiner Halbierung der
großen Blumenmotive und der Netzrauten längs der Seitenränder das Wesen des unendlichen
Rapports getreu wiedergibt. ' Auffallend ist nun vor allem der damit nothwendig verbundene
Appell an die ergänzende geistige Erfahrung, der in früheren Perioden der Antike in solchem
Ausmaße wohl unstatthaft erschienen wäre. Typisch gemein-antik ist allerdings die Entfaltung
in der Ebene, typisch spätrömisch dagegen das „Streumuster", das heißt die Isolierung der
Motive gegeneinander (und als natürliches Complement dazu die Zersplitterung des Grundes
in schwer übersichtliche Theilflächen), während das classische Ornament überall die Verbindung
— einerseits der Motive, anderseits der Theilflächen des Grundes —- gesucht hatte.

Aus der gegebenen Definition des unendlichen Rapports ergibt sich schon, dass er in
engster Verwandtschaft mit dem spätrömischen Colorismus steht, weil beiden das gleiche Kunst-
wollen zugrunde liegt: gerichtet auf reichen und kleinlichen rhythmischen Wechsel von Muster
und Grund, Hell und Dunkel, in der Ebene, — unter möglichster Zurückdrängung der Bedeutung
von Muster und Hell, und dementsprechender Emancipierung der Bedeutung von Grund
und Dunkel.

Den ersten Anfängen des unendlichen Rapports begegnen wir zwar schon bei den
Altegyptern, deren Kunst überhaupt sich äußerlich mit der spätrömischen nahe verwandt
darstellt — ein Verhältnis, das wir noch öfter im einzelnen zu verfolgen haben werden — bei
näherer Betrachtung hingegen genau das entgegengesetzte Extrem darstellt. Der unendliche
Rapport bei den Egyptern beschränkt sich entweder auf geometrische Muster (zum Beispiel
Schachbrett), deren Halbierungen ohneweiters als ein Ganzes für sich wahrgenommen werden,
ohne dass es zu ihrer Erfassung erst der ergänzenden Mithilfe der geistigen Erfahrung bedürfte.
Ferner gibt er nicht Streumuster, sondern enge untereinander verbundene Muster (zum Beispiel die
Spirallinien mit zwickelfüllenden Lotusblüthen, wie sie auch in der mykenischen Kunst Nach-
ahmung gefunden haben). Das Charakteristische des unendlichen Rapports in seiner voll-
kommensten Ausbildung in der spätantiken Kunst beruht eben einerseits in der Herübernahme
der Motive aus dem organischen Bereiche (wodurch der Appell an die Erfahrung nothwendig
gemacht erscheint), anderseits im Streumuster (wodurch die Isolierung der Einzelmotive und
Grundtheile innerhalb der Ebene bewirkt ist). Dieser Auffassung des unendlichen Rapports
begegnen wir, wie ich in den Stil fragen S. 308 ff. nachgewiesen habe, höchst bezeichnender
Weise zuerst in pompejanischer Zeit. An diesen Erstlingsbeispielen sind aber die Motive noch
verhältnismäßig „naturalistisch" und auch noch nicht ohne alle Verbindung untereinander
/• geblieben. In einer weiter vorgeschrittenen Phase wird uns dieses Decorationssystem an Emails
des dritten Jahrhunderts (Fig. 87) begegnen. Die Borde Fig. 7- bezeichnet endlich eine so voll-

1 Da die Blumenmotive eine aufrechte Richtung befolgen, wäre eine Vierteltheilung derselben in den Ecken, wie sie zum Beispiel
Rosetten ermöglichen würden, nicht durchführbar. Der unendliche Rapport kann daher an diesen Motiven nur durch Halbierung in der
Senkrechten zum Ausdrucke gelangen.
 
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