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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern — Wien, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.1272#0101
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96

SCULPTUR.

unter einheitlichem Gesichtspunkte zu einem höheren Raumganzen verbunden sein lässt, nicht
weiter ableugnen. Da ist wirkliche „Respiration", greifbare Luftcirculation zwischen in der Ebene
isolierten und doch in eine optische Fläche componierten Figuren! So nahe war man am Ausgange
der Antike dem Durchbruche der antiken Schranke, dem bewussten Übergange zu einer wirklich
modernen Raumauffassung; und doch war es offenbar der vereinzelte Wurf eines vereinzelten
(leider, wie dies für die ganze späteste Antike charakteristisch ist, anonym gebliebenen) Meisters,
der kühn genug war, aus der Richtung seiner Zeit extreme, weit voraneilende Consequenzen zu
ziehen. Schon die Pilatusgruppe des Junius Bassus-Sarkophags, die offenbar nach dem gleichen
Grundschema componiert ist, zeigt dieses gleichwohl beträchtlich vereinfacht und gerade des
frappierenden Figuren-Hemicykels entkleidet. Man verlangte offenbar noch nicht nach Lösung
solcher Probleme; die Zeit -hiefür sollte erst fast ein Jahrtausend später, bei Entstehung der
Naumburger Sculpturen (Abendmahl) wiederkehren.

Man hat gefragt, was der Mann zu bedeuten habe, der neben Pilatus sitzt, und von dem die
Evangelien nichts berichten. Man hätte ebensogut fragen können, was die Mehrzahl der Figuren
zu bedeuten habe, die hinter den vorderen im Hintergrunde nur mit dem Kopfe sichtbar werden.
Sowie diese letzteren bloß eine rein künstlerische Function — der deutlicheren Isolierung der
vorderen Hauptfiguren innerhalb der Ebene — zu erfüllen haben, ist auch die Rolle des Begleiters
des Pilatus lediglich aus einer Absicht der Composition hervorgegangen: einen packend raum-
wahren Halbkreis um das Tischchen herum herzustellen. Schon das fast kokette Emporziehen
des Beines, um dessen Knie der Mann beide Arme stützend herumgelegt hat, beweist die Lust
des Künstlers, der die Gruppe entworfen hat, an der Lösung rein künstlerischer Probleme. Für
diese echt antike Freude an der materiellen Erscheinung war aber in der nächsten Folgezeit kein
Platz mehr. Dieses Herantreten an die Lösung des modernen Raumproblems steht, wie sich
zeigen wird, im vierten Jahrhundert nicht völlig vereinzelt da; aber vom fünften Jahrhundert an,
in der ausgesprochenen spätrömischen Kunst, ist keine Spur mehr von solchen Neigungen zu
entdecken. Was man fortan an den Werken der Figurenkunst sucht, ist überwiegend der auf ein
Transscendentes bezügliche Inhalt, und weniger die materielle Formerscheinung als solche. Die
Wendung hat nicht die zum endgiltigen Siege gelangte christliche Anschauung an und für sich
herbeigeführt (denn die Spätheiden bewegten sich nicht minder in dem gleichen Anschauungskreise),
sondern die strengere, einseitig ethisch-dogmatische Richtung, welcher die christliche Welt vom
Ende des vierten Jahrhunderts an zuzuneigen begann. Vieles was im dritten Jahrhundert noch
Lehre gewesen war, im vierten mindestens geduldet wurde, hat im fünften Jahrhundert in der
christlichen Welt keinen Bestand mehr haben können.

Von Einzelheiten fallen an Fig. 23 besonders die schräg eingeschnittenen, regelmäßig
geschwungenen und gereihten Falten auf, die wir von den heidnischen Sarkophagen Fig. 16 und 17
her kennen. Die Köpfe erscheinen in der Nahsicht schematisch und flüchtig, bei optischer Auf-
nahme aus entsprechender Entfernung von individuell-momentaner Wirkung Die äußeren
Bewegungen sind auch hier sehr gemäßigt, so dass hauptsächlich das innere Leben an den
Figuren zum Ausdrucke gelangt; der scharfe Seitenblick des Pilatus versetzt uns geradezu in die
Mitte des dritten Jahrhunderts, in welche Zeit man wohl am liebsten die Erfindung des Ganzen
verlegen möchte, wenn auch dieser Sarkophag selbst einige Jahrzehnte später gearbeitet sein
mag. Contraposte sind noch keineswegs unterdrückt; ebenso wird Abwechslung in den Stellungen
angestrebt, und zwei Figuren (oben Moses im contrapostischen Gegenüber zu Abraham, unten
 
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