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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern — Wien, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.1272#0216
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GRUNDZÜGE DES SPÄTRÖMISCHEN KUNSTWOLLENS. 2II

stellen liebte, konnte in den Äußerungen von Schriftstellern über das Kunstwollen ihrer Zeit nichts
anderes als speculative Phantasien erblicken: in den Augen der Kunstmaterialisten gibt es ja
kein bewusstes Kunstwollen, und was man darüber in früheren Zeiten jemals gesagt hat, konnte
im besten Falle nur wertlose Selbsttäuschung, wo nicht absichtlicher Betrug sein. Wer aber ein-
mal zur Erkenntnis gelangt ist, dass die Menschheit die sinnlichen Erscheinungen nach Umriss und
Farbe in Ebene oder Raum zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise vor Augen gestellt
sehen wollte, wird sich auch ohneweiters mit dem Gedanken befreunden, dass die Äußerungen
denkender und unterrichteter Männer über dasjenige, was sie vom Kunstwerk zu ihrer Zeit ver-
langten, volle Beachtung seitens der kunstgeschichtlichen Forschung verdienen. Denn es winkt
uns hier ein Mittel, um uns völlig sicher zu überzeugen, ob die auf Grund unserer subjectiven
Betrachtung gewonnenen Anschauungen von den vorwaltenden Kunstabsichten einer bestimmten
Periode in der That auch die Anschauungen der Angehörigen jener Zeit gewesen sind, — mit
anderen Worten: ob man zur damaligen Zeit in der That dasjenige von der bildenden Kunst
gewollt hat, was wir uns auf Grund der Untersuchung der Denkmäler als das Gewollte vor-
stellen —, in welcher Übereinstimmung offenbar erst der wahre und allein zuverlässige Prüfstein
zur Erhärtung unserer Forschungsresultate gelegen wäre.

Das Material, das für solche Zwecke aus der Zeit vom dritten bis zum fünften Jahrhundert
vorliegt, ist ein überaus reichhaltiges und dürfte die eingehendsten Nachweise gestatten. Für die
Spätheiden kommen wohl hauptsächlich die Neuplatoniker und unter diesen wieder vor Allen
Plotinus in Betracht. Kaum minder ergiebig dürfte sich eine Durchsicht der christlichen Autoren
gestalten. An dieser Stelle möge — weniger um den Gegenstand auch nur zu umschreiben,
geschweige denn zu erschöpfen, als um einen Beweis für die Durchführbarkeit der vorhin
postulierten Zukunftsaufgabe der Kunstgeschichtsforschung zu liefern — die Schönheitslehre des
heiligen Augustin in ihrem Verhältnisse zur spätrömischen Kunst ihre Skizzierung finden.1

Nach Augustin's Anschauung ist das reine Schöne lediglich bei Gott; aber anderseits gibt
es kein Ding in der geschaffenen Natur, das nicht Spuren (Vestigia) des Schönen enthielte: selbst
die hässlichen Dinge sind hievon nicht ausgenommen.z Die bildende Kunst hat die Aufgabe, bei

1 Angesichts der Skepsis, welche bisher Untersuchungen solcher Art entgegengebracht wurde, scheint es mir am Platze, von vorn-
herein zu betonen, dass Augustinus sich durchaus nicht nach Art moderner philosophierender Ästhetiker auf die Aufstellung allgemeiner
abstracter Lehrsätze beschränkt, sondern — wenn auch nicht gerade sehr häufig, so doch immerhin oft genug ■— auf einzelne Kunstwerke
oder bestimmte Details des bildenden Kunstschaffens zu sprechen kommt. Daraus ergibt sich uns die beruhigende Gewissheit, dass Augustinus
sich sehr wohl dessen bewusst war, in welcher Weise die von ihm vorgetragenen allgemeinen Sätze im einzelnen Kunstwerk ihren ganz klaren
und bestimmten Ausdruck fänden.

In jungen Jahren, als er noch Heide war, hat Augustinus, eigenem Geständnisse zufolge, einige Bücher de pulchro et apto
geschrieben. In dieser Fassung des Titels erkennen wir jene Scheidung zwischen Kunstzweck und äußerem Zweck (sei es Gebrauchszweck,
sei es Vorstellungszweck), die durch die mechanistische Betrachtungsweise der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts außer Kraft
gesetzt worden war, heute aber, angesichts der Unmöglichkeit das Gefallen am Kunstwerke mechanisch zu erklären, wieder in seine Geltung
eingesetzt zu werden beginnt. Das genannte Jugendwerk Augustinus' ist schon zu seinen Lebzeiten verloren gegangen, was wir weit lebhafter
bedauern, als er selbst gethan hat, letzteres mit der Motivierung, dass er darin das Schöne weniger in Gott, als in den sinnfälligen Erschei-
nungen — bildende Kunst, Tanz, Musik, Poesie — gesucht hat. Als Christ hat er sechs Bücher de musica verfasst, worin hauptsächlich
metrische Dinge behandelt sind. Weit wichtiger sind zahlreiche beiläufige Bemerkungen über das Schöne und die schönen Künste, die sich
in seinen Werken zerstreut finden. Eine Zusammenstellung derselben ist versucht in der im Jahre 1891 zu Poitiers erschienenen Schrift von
Aug. Berthaud : Sancti Augustini doctrina de pulchro ingenuisque artibus e variis illius operibus excerpta. Eine Vollständigkeit der ein-
schlägigen Stellen ist zwar in diesem Buche so wenig erreicht, dass selbst grundwichtige und völlig charakteristische Äußerungen Augustins
darin fehlen. Anderseits hat Berthaud die Ansichten Augustins vielfach arg missverstanden, was sich hauptsächlich aus dem Umstände
erklärt, dass der Bearbeiter mit dem Charakter der gleichzeitigen Kunstdenkmäler nicht vertraut gewesen ist. Doch habe ich, dem eine
systematische Durchprüfung von St. Augustins Schriften bisher schon aus Zeitmangel unmöglich gewesen wäre, das Berthaud'sche Buch in
seinem Citatentheile immerhin mit Nutzen für meine Studien herangezogen.

2 Augustin ist also einer der Ersten, welche die Relativität von Schön und Hässlich erkannt haben; wie er dadurch in Gegensatz zur
Anschauung der früheren Antike getreten ist, wird sich weiter unten erweisen. Das Hässliche als solches definiert er noch völlig im antiken
Geiste, indem er es als das Formlose (Deforme), das heißt nicht zu einer individuellen Einzelform Abgeschlossene bezeichnet.

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