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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern — Wien, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.1272#0222
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GRUNDZÜGE DES SPÄTRÖMISCHEN KUNSTWOLLENS. 2I-

Wendung einen Verfall erblicken möchte, vermisst sich, dem menschlichen Geiste heute den Weg
vorzuschreiben, den er hätte nehmen sollen, um von der antiken zur modernen Naturauffassung zu
gelangen. Freilich bedeutete die spätantike Wendung zur Magie einen Umweg; aber die Noth-
wendigkeit dieses Umweges liegt völlig klar zutage, sobald man sich nur gegenwärtig hält, dass
es sich zunächst nicht um die Erfindung einer bestimmten naturwissenschaftlichen Theorie, sondern
um die Beseitigung der gemeinantiken, Jahrtausende alten Vorstellung von der Composition der
Welt aus mechanisch abgeschlossenen Einzelformen gehandelt hat. Die unerlässliche Vor-
bedingung hiefür war aber nicht allein die Erschütterung des Glaubens an den rein mechanischen
Zusammenhang, sondern auch das Aufkommen eines neuen, positiven Glaubens an einen außer-
mechanischen und dennoch von den Einzelformen ausgehenden — also magischen — Zusammen-
hang der Dinge. Erst als dieser neue Glaube seine unvertilgbaren Früchte getragen hatte, durfte
der (bei den Abendländern niemals ganz in Vergessenheit gerathene) mechanische Zusammenhang
(gleichmäßig in der bildenden Kunst wie in der Weltanschauung) wieder gebürende Berück-
sichtigung finden, denn nun war ein- für allemale die Gefahr ausgeschlossen, dass man wiederum
in die Vorstellung eines ausschließlich mechanischen Zusammenhanges der aus inalterablen Einzel-
formen zusammengesetzt gedachten Welt hätte zurückverfallen können. Die Vorstellung von der
Existenz eines außermechanischen Zusammenhanges aller Dinge der Schöpfung (neben dem
mechanischen) hatte sich inzwischen im Geiste der abendländischen Menschheit ebenso unaus-
rottbar befestigt, als die Auffassung von der Massencomposition (an Stelle der stofflichen Einzel-
form) und dem Tiefraume (an Stelle der Reihenebene) als Grundelementen der bildenden Kunst.
Beides aber hat die Entwicklung der culturführenden europäischen Menschheit der spätrömischen
Periode zu danken.l

Vorstellung von den durchlaufenden, nicht von der Individualität der Dinge abhängigen Kräften (zum Beispiel Elektricität), ferner die Zellen-
und Gewebelehre beruhen auf der postantiken Auflösung der Einzelform in eine Massencomposition und auf der Vorstellung von der Möglich-
keit der Beeinflussung eines Dinges durch Tausende und Abertausende anderer, zum Theile weit entfernter Dinge in der gleichen Secunde.
' Die Parallele zwischen bildender Kunst und Weltanschauung des Alterthums hier auf allen Ausdrucksgebieten der letzteren durch-
zuführen, verbietet der Plan und Charakter dieses Werkes. Nur auf Eines mag noch die Aufmerksamkeit gelenkt sein, weil sich dafür
namentlich unter den Ausführungen im Capitel der „Sculptur" zahlreiche Anknüpfungspunkte finden. Besonders schlagend äußert sich der
gedachte Parallelismus in dem gleichzeitigen Auftauchen eines ausgesprochenen Dualismus im griechischen Denken und einer Berücksichti-
gung des Psychischen in der griechischen Figuralkunst.. Tm schroffsten Gegensatz dazu steht die altorientalische und griechisch-archaische
Zeit mit ihrem materialistischen Monismus (die Seele ein verfeinerter Stoff) und ihrer objectiven Darstellung der stofflichen Einzelformen. In
der Ausgangsphase des Alterthums sehen wir nun scheinbar die Elemente des primitiven Stadiums — Monismus und künstlerische Objec-
tivität — wiederkehren: thatsächlich sind es aber entgegengesetzte Extreme. Der Monismus ist nunmehr ein spiritualistischer (der Körper
eine vergröberte Seele) und die Objectivität ist auf die Erscheinung des Psychischen gerichtet (einseitige Hervorhebung des Auges als
Seelenspiegels, Wendung der Figuren geradeaus gegen den Beschauer); was aber die körperliche Erscheinung als solche betrifft, ist nun die
Objectivität der dreidimensionalen Erscheinung angestrebt, die für die Wahrnehmung des Tiefraumes ein stärkeres Heranziehen des geistigen
Bewusstseins erfordert — an Stelle der zweidimensionalen Erscheinung, auf die das altegyptische Objectivitätsstreben gerichtet gewesen war.
Das Gemeinsame zwischen dem ersten und dritten Stadium ist das unwiderstehliche Begehren nach einer absolut gesetzlichen Norm und der
möglichste Ausschluss alles Subjectiven: daher ist die Kunst des ersten und dritten Stadiums eine objective und anonyme und auf das engste
mit dem Cultus verbunden, die gleichzeitige Weltanschauung eine streng religiöse, oder, genauer gesagt, cultusmäßige. Nur in der dazwischen
liegenden classischen Phase begegnen wir Subjectivismus und Persönlichkeit in der bildenden Kunst, Philosophie und Wissenschaft (die immer
subjectiv und persönlich sind) in der Weltanschauung. — Die engste Parallele zu dem angedeuteten Entwicklungsprocess, wenigstens in
seinen ersten zwei Stadien, bietet eine Betrachtung der Geschichte der bildenden Künste seit Karl dem Großen: im Mittelalter das Streben
nach IsoljejTrn^jler_Dinge (diesmal im Räume, anstatt der antiken Ebene), nach einer objectiven Norm ihrer (dreidimensionalen) Ercheinung,
und nach engster Verbindung mit dem Cultus (der nichts anderes ist als das in eine objective gemeinverbindliche gesetzliche Norm gebrachte
subjective Religionsbedürfnis der einzelnen Individuen); in der neueren Zeit hingegen das Streben nach Verbindung der Dinge untereinander
(im Räume, sei es mittels der Linie wie im sechzehnten Jahrhundert oder mittels des Lichtes wie im siebzehnten Jahrhundert oder mittels der
individuellen Färbungen wie in der modernen Kunst), nach Wiedergabe ihrer subjectiven Erscheinung, und nach Loslösung vom Cultus,
wofür nun Philosophie und Wissenschaft (als diejenigen Disciplinen, welche die natürliche Verbindung der Dinge untereinander verkünden)
eintreten.

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