Geschehnis hieß Cezanne, der für die toile das Wachstum der
Farhe erobert hatte, wie zwei Dezennien vorher van Gogh das
Wachstum der Linie.
In diesen Zeilen persönlicher Erinnerung sei alle Kunsttheorie
vermieden. Aus einer nun fast fünfzehnjährigen Distanz lassen
sich die Zusammenhänge leicht erkennen und in ein System
bringen. Uns, die wir damals das Glück hatten, in der Sphäre
dieser Emanation zu leben, erschienen diese Dinge minder deut-
bar, aber sie erschütterten uns. Wir empfanden wohl dunkel,
daß Matisse irgendwo in der großen Tradition wurzelte, und
ließen uns nur durch Theoretiker mitunter verleiten, auf Gauguin
zu raten, in dessen Gedächtnisausstellung ein Jahr früher das
Wort fiel: ,,C’est tres beau, mais £a sent un peu les colonies“. . .
Die Kunst Matisses, dessen äußere Erscheinung mit rötlich-
braunem Bart und goldner Professorenbrille fast etwas Germa-
nisches hatte, ist urfranzösisch. Seine ganze Evolution ist
Ringen um die Materie und mit der Materie. Er hatte für seine
Person die kapitale Wichtigkeit der Oberfläche erkannt, die
Bedeutung der komplizierten Wechselbeziehung von farbigen
Flächen und Linien, in deren kluger Beherrschung der Franzose
das equilibre seines Bildes verehrt. Er reduzierte die Errungen-
schaften seiner Vorgänger auf das Mindestmaß des notwendigen
Ausdrucks, indem er auf jedes noch so verlockende Beiwerk
verzichtete und erreichte gerade dadurch eine Steigerung und
Intensität des Ausdrucks, die neu war. Er schuf die Expression
schlechtweg.
Wie oft, als sein Schüler, habe ich von ihm das Wort Ex-
pression gehört, nie ohne daß ihm dieses zweite folgte: Sensi-
bilität. Diese Bilder in der feierlichen Simplizität ihrer großen
Linien und Flächen sind über alle Klugheit ihrer Konzeption
von einem so ursprünglichen Sentiment für Rhythmus und Takt,
daß sie transsendentalen Gehalt haben, wie alle wahrhaft große
Kunst.
(Aus dem „Genius44, 1920)
lo
Farhe erobert hatte, wie zwei Dezennien vorher van Gogh das
Wachstum der Linie.
In diesen Zeilen persönlicher Erinnerung sei alle Kunsttheorie
vermieden. Aus einer nun fast fünfzehnjährigen Distanz lassen
sich die Zusammenhänge leicht erkennen und in ein System
bringen. Uns, die wir damals das Glück hatten, in der Sphäre
dieser Emanation zu leben, erschienen diese Dinge minder deut-
bar, aber sie erschütterten uns. Wir empfanden wohl dunkel,
daß Matisse irgendwo in der großen Tradition wurzelte, und
ließen uns nur durch Theoretiker mitunter verleiten, auf Gauguin
zu raten, in dessen Gedächtnisausstellung ein Jahr früher das
Wort fiel: ,,C’est tres beau, mais £a sent un peu les colonies“. . .
Die Kunst Matisses, dessen äußere Erscheinung mit rötlich-
braunem Bart und goldner Professorenbrille fast etwas Germa-
nisches hatte, ist urfranzösisch. Seine ganze Evolution ist
Ringen um die Materie und mit der Materie. Er hatte für seine
Person die kapitale Wichtigkeit der Oberfläche erkannt, die
Bedeutung der komplizierten Wechselbeziehung von farbigen
Flächen und Linien, in deren kluger Beherrschung der Franzose
das equilibre seines Bildes verehrt. Er reduzierte die Errungen-
schaften seiner Vorgänger auf das Mindestmaß des notwendigen
Ausdrucks, indem er auf jedes noch so verlockende Beiwerk
verzichtete und erreichte gerade dadurch eine Steigerung und
Intensität des Ausdrucks, die neu war. Er schuf die Expression
schlechtweg.
Wie oft, als sein Schüler, habe ich von ihm das Wort Ex-
pression gehört, nie ohne daß ihm dieses zweite folgte: Sensi-
bilität. Diese Bilder in der feierlichen Simplizität ihrer großen
Linien und Flächen sind über alle Klugheit ihrer Konzeption
von einem so ursprünglichen Sentiment für Rhythmus und Takt,
daß sie transsendentalen Gehalt haben, wie alle wahrhaft große
Kunst.
(Aus dem „Genius44, 1920)
lo