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10 I. Kindheit und kaufmännische Laufbahn: 1822—1866.

schäft war so unbedeutend, dass unser ganzer Absatz jährlich
kaum 3000 Thaler betrug; hielten wir es doch für ein ganz be-
sonderes Glück, wenn wir einmal im Laufe eines Tages für zehn
bis fünfzehn Thaler Materialwaaren verkauften, i Natürlich kam
ich hierbei nur mit den untersten Schichten der Gesellschaft in
Berührung. Von 5 Uhr morgens bis 11 Uhr abends war ich
in dieser Weise beschäftigt, und mir blieb kein freier Augenblick
zum Studiren. Ueberdies vergass ich das Wenige, was ich in
meiner Kindheit gelernt hatte, nur zu schnell, aber die Liebe zur
Wissenschaft verlor ich trotzdem nicht/ j— verlor ich sie doch
niemals, — und so wird mir auch, solange ich lebe, jener Abend
unvergesslich bleiben, an dem ein betrunkener Müller, Hermann
Mederhöffer, in unsern Laden kam. Er war der Sohn eines prote-
stantischen Predigers in Röbel (Mecklenburg) und hatte seine
Studien auf dem Gymnasium von Neu-Buppin beinahe vollendet,
als er wegen schlechten Betragens aus der Anstalt verwiesen
wurde. Sein Vater übergab ihn dem Müller Dettmann in Güstrow
als Lehrling; hier blieb er zwei Jahre und wanderte danach als
Müllergesell. Mit seinem Schicksal unzufrieden, hatte der junge
Mann leider schon bald sich dem Trünke ergeben, dabei jedoch
seinen Homer nicht vergessen; denn an dem oben erwähnten Abend
recitirte er uns nicht weniger als hundert Verse dieses Dichters
und scandirte sie mit vollem Pathos. Obgleich ich kein Wort
davon verstand, machte doch die melodische Sprache den tiefsten
Eindruck auf mich, und heisse Thränen entlockte sie mir über
mein unglückliches Geschick. Dreimal musste er mir die gött-
lichen Verse wiederholen, und ich bezahlte ihn dafür mit drei
Gläsern Branntwein, für die ich die wenigen Pfennige, die gerade
mein ganzes Vermögen ausmachten, gern hingab. Von jenem
Augenblick an hörte ich nicht auf, Gott zu bitten, dass er in
seiner Gnade mir das Glück gewähren möge, einmal Griechisch
lernen zu dürfen.

Doch schien sich mir nirgends ein Ausweg aus der traurigen
und niedrigen Stellung eröffnen zu wollen, bis ich plötzlich wie
durch ein Wunder aus derselben befreit wurde. Durch Aufheben
eines zu schweren Fasses zog ich mir eine Verletzung der Brust
 
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