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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2): Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1879

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https://doi.org/10.11588/diglit.66815#0340
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Achtes Hauptstück.

Gegen Ende des XVII. Jahrhunderts scheint Venedig den Ton in
dem Möbelluxus angegeben zu haben. Es kamen damals die prachtvollen,
ganz mit bossirtem Silber beschlagenen, überreich dekorirten Tische,
Spiegel, Gueridons u. s. w. auf; sie sind bemerkenswerthe Beispiele des
Einflusses, welchen die technischen Prozesse einer herrschend werdenden
Industrie auf den Geschmack der Zeit haben können. Obschon die
ronde bosse und die Metallstempelkunst an den Werken der Waffenschmiede
der XV. und XVI. Jahrhunderte ganz andere und schönere Resultate
hervorrief, so sind doch beide Ergebnisse dieser Technik jedes in seiner
Art ihrem Stile gerecht. Diese Verschwendung edler Metalle für Möbel
und Geräthe hatte ihren Gipfel erreicht während der ersten glänzenden
Zeit Ludwigs XIV. Spätere Geldverlegenheiten veranlassten ihn, den
Höflingen und Grossen das Beispiel der Opferbereitschaft zu geben, indem
er alle seine Silbermöbel einschmelzen liess. In der That sind verhältniss-
mässig sehr wenige Stücke dieses vornehmen Barokstiles erhalten.
Die zweite Periode Ludwigs XIV. bezeichnet eine Affektation des
klassischen Geschmacks, bei der, wie Viollet Le Duc sich richtig aus-
drückt, das Breite mit dem Grossen verwechselt wird. Doch hat der
Stil jener Zeit auch seine wirklich grossen Züge, was niemand ver-
kennen wird, der mit Unbefangenheit die Erscheinungen jener glanzvoll-
sten Periode der französischen Geschichte auf allen Gebieten der Künste
und der Wissenschaften in Betracht zieht. —
Die ausgeschnittene und wieder eingelegte Arbeit von Metall auf
Schildpattgrund und umgekehrt (eine Wiederaufnahme von Proceduren,
die schon Plinius beschreibt) sollte nun eine Zeitlang herrschender Möbel-
stil werden. Er ist unter dem Namen des Erfinders Boule im Allge-
meinen bekannt genug, hat aber bei genauerer Prüfung viele Abstufungen
und Unterstilarten, vom schweren Metallbeschläge und Hautrelief (unter-
mischt mit Flächenornamenten) bis zum willkürlich Tändelnden der eigent-
lichen Rococozeit.
Der Sinn für formale Angemessenheit war in jener Zeit durch das
Beispiel des Versailler Hofes, an dem sich französischer Geist mit spa-
nischer Grandezza umgab, sehr ausgebildet, in dem Sinne nämlich, dass
man jedes Ding zu verwerthen wusste, wozu es passte und wohin es
gehörte. So fand Boule’s Erfindung wohl ihre Anwendung auf Tische,
Kommoden, Uhrgehäuse, Koffer und dergl.; aber man überliess das Bett,
das Sopha und den Sessel dem Tapezier, der über sein Gebiet entweder
allein waltete oder den Holzschnitzer und Vergoldei1 zu Hülfe nahm.
Zuletzt wusste dei’ Tapezier innerhalb seines Wirkungsbereiches in solchem
 
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