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machen. Auf diese Weise kommt der "schöne Typus" zustande, der häufig von dem charak-
teristischen abweicht und sich neben ihm behaupten kann. Aber damit sind unsere Bestim-
mungen noch nicht vollständig. Denn der "schöne" Eindruck geht nun nicht etwa auf die
Fälle der Erfahrung zurück, die dem Goldenen Schnitt am nächsten kommen, also den er-
reichbarsten Kompromiß zwischen praktischer Erfahrung und den Forderungen der Mathematik
bilden. Noch ein weiterer Faktor spricht entscheidend mit, das Gewicht nämlich, das jedem
Glied der Proportion durch seine Funktion und seine Bedeutung zukommt. Und zwar geht es
nicht wie beim charakteristischen Typus darum, das Wichtigste möglichst hervorzuheben,
also im Gesicht des Menschen die Augen möglichst groß, in seiner Gestalt den Kopf mög-
lichst umfangreich zu gestalten. Im Gegenteil, je wichtiger ein Glied ist, desto mehr muß
es in seiner Wirkung gedämpft werden, damit es nicht das Gleichgewicht stört. Die Augen
müssen groß genug sein um sich durchzusetzen, aber nicht so groß, daß sie das Gesicht be-
herrschen; das Kinn dagegen muß ziemlich ausgebildet sein, um die Aufmerksamkeit ge-
nügend festzuhalten. Die Gewichtigkeit, die der Torso des Menschen besitzt, verlangt eine
gewisse Zurückhaltung, der Kopf mit seiner Bedeutung wirkt auch leicht zu groß, die Beine
dagegen dürfen verhältnismäßig lang sein, um die Beweglichkeit genügend zu betonen. Alle
diese Rücksichten führen nicht zu absoluten Größenverhältnissen, die abstrakt zu berechnen
wären, sondern zu Verschiebungen, zu Bevorzugungen innerhalb der Grenzen der Erfahrung;
erst aus dem Vergleich mit den gewohnten Erscheinungen filtrieren sich die günstigsten Fälle
heraus. Je wichtiger ein Organ oder Teil ist, desto empfindlicher reagieren wir auf jede Ab-
weichung in der Proportion. Zwischen "großen" und "kleinen" Augen ist ein viel geringerer
Unterschied als zwischen großen und kleinen Ohren, weil die Augen für den Ausdruck so
viel mehr bedeuten.
Wir haben also drei Faktoren, die am Zustandekommen der Proportionswirkung beteiligt
sind: die rein abstrakten Größenverhältnisse, die mathematischer Bestimmung zugänglich
sind, die erfahrungsmäßige Größe und die funktionelle Bedeutung. Aus ihnen ergibt sich
das Resultat der schönen Proportion, die nicht berechnet oder sonstwie theoretisch bestimmt
werden kann, die uns aber bei ihrem Auftreten unmittelbar bewußt wird.
Dies gilt vor allem für die organischen Bildungen unserer Erfahrungswelt. Für leblose Ge-
genstände, die entweder beliebige Formen annehmen können (wie etwa Felsgestalten),
oder die in ihrer Bildung schon unter mathematischen Gesetzen stehen (wie etwa Kristalle
oder Schneckenhäuser), tritt das mathematische Verhältnis in viel höherem Grade, wenn
auch nicht ausschließlich, hervor. Wie steht es nun bei den Formen, die der Mensch spontan
und ohne direktes Naturvorbild hervorbringt, also z. B. in der Architektur? Hier fällt die
Erfahrung großenteils weg, denn Traditionen wirken zwar mit, können aber gelegentlich
radikal ausgeschaltet werden. Die erste Folge der Freiheit des architektonischen Schaffens
ist auch hier wieder das größere Übergewicht der mathematischen Proportion. Eingeschränkt
wird es nur durch die Funktion der Bauteile, von der die Wohlgefälligkeit der Beziehungen
mitbestimmt wird. Obwohl aber der Erfahrungscharakter zurücktritt, sind die Verhältnisse
in der Architektur nicht viel einfacher als bei den lebenden Organismen. Denn bei den
Gebäudeproportionen ist ein Zwiespalt zu überwinden. Die Funktion eines Gesimses ist z.
B. nichts Selbstverständliches wie die der Augen im Gesicht, sie muß sich vielmehr erst
durchsetzen durch die Kraft, mit der sie den Blick auf sich zieht. Andererseits muß der
Bauteil, je gewichtiger er ist, mit desto größerer Zurückhaltung behandelt werden, um
nicht das Gleichgwicht zu zerstören. Auch hier also gewissermaßen ein Parallelogramm
der Kräfte, aus dem sich das harmonische Verhältnis erst ergibt. Aus diesem Grunde gibt
es in der Architektur meist sehr verschiedenartige Lösungen, die gleichberechtigt neben-
einander stehen.
Übrigens müssen wir rückblickend feststellen, daß auch bei den Proportionen lebendiger
Organismen nicht nur die gewußte Bedeutung der Dinge mitspricht, sondern auch der Aus-
druckswert der sinnlichen Formen, die in der genugsam dargestellten Art mit dem Wissen
machen. Auf diese Weise kommt der "schöne Typus" zustande, der häufig von dem charak-
teristischen abweicht und sich neben ihm behaupten kann. Aber damit sind unsere Bestim-
mungen noch nicht vollständig. Denn der "schöne" Eindruck geht nun nicht etwa auf die
Fälle der Erfahrung zurück, die dem Goldenen Schnitt am nächsten kommen, also den er-
reichbarsten Kompromiß zwischen praktischer Erfahrung und den Forderungen der Mathematik
bilden. Noch ein weiterer Faktor spricht entscheidend mit, das Gewicht nämlich, das jedem
Glied der Proportion durch seine Funktion und seine Bedeutung zukommt. Und zwar geht es
nicht wie beim charakteristischen Typus darum, das Wichtigste möglichst hervorzuheben,
also im Gesicht des Menschen die Augen möglichst groß, in seiner Gestalt den Kopf mög-
lichst umfangreich zu gestalten. Im Gegenteil, je wichtiger ein Glied ist, desto mehr muß
es in seiner Wirkung gedämpft werden, damit es nicht das Gleichgewicht stört. Die Augen
müssen groß genug sein um sich durchzusetzen, aber nicht so groß, daß sie das Gesicht be-
herrschen; das Kinn dagegen muß ziemlich ausgebildet sein, um die Aufmerksamkeit ge-
nügend festzuhalten. Die Gewichtigkeit, die der Torso des Menschen besitzt, verlangt eine
gewisse Zurückhaltung, der Kopf mit seiner Bedeutung wirkt auch leicht zu groß, die Beine
dagegen dürfen verhältnismäßig lang sein, um die Beweglichkeit genügend zu betonen. Alle
diese Rücksichten führen nicht zu absoluten Größenverhältnissen, die abstrakt zu berechnen
wären, sondern zu Verschiebungen, zu Bevorzugungen innerhalb der Grenzen der Erfahrung;
erst aus dem Vergleich mit den gewohnten Erscheinungen filtrieren sich die günstigsten Fälle
heraus. Je wichtiger ein Organ oder Teil ist, desto empfindlicher reagieren wir auf jede Ab-
weichung in der Proportion. Zwischen "großen" und "kleinen" Augen ist ein viel geringerer
Unterschied als zwischen großen und kleinen Ohren, weil die Augen für den Ausdruck so
viel mehr bedeuten.
Wir haben also drei Faktoren, die am Zustandekommen der Proportionswirkung beteiligt
sind: die rein abstrakten Größenverhältnisse, die mathematischer Bestimmung zugänglich
sind, die erfahrungsmäßige Größe und die funktionelle Bedeutung. Aus ihnen ergibt sich
das Resultat der schönen Proportion, die nicht berechnet oder sonstwie theoretisch bestimmt
werden kann, die uns aber bei ihrem Auftreten unmittelbar bewußt wird.
Dies gilt vor allem für die organischen Bildungen unserer Erfahrungswelt. Für leblose Ge-
genstände, die entweder beliebige Formen annehmen können (wie etwa Felsgestalten),
oder die in ihrer Bildung schon unter mathematischen Gesetzen stehen (wie etwa Kristalle
oder Schneckenhäuser), tritt das mathematische Verhältnis in viel höherem Grade, wenn
auch nicht ausschließlich, hervor. Wie steht es nun bei den Formen, die der Mensch spontan
und ohne direktes Naturvorbild hervorbringt, also z. B. in der Architektur? Hier fällt die
Erfahrung großenteils weg, denn Traditionen wirken zwar mit, können aber gelegentlich
radikal ausgeschaltet werden. Die erste Folge der Freiheit des architektonischen Schaffens
ist auch hier wieder das größere Übergewicht der mathematischen Proportion. Eingeschränkt
wird es nur durch die Funktion der Bauteile, von der die Wohlgefälligkeit der Beziehungen
mitbestimmt wird. Obwohl aber der Erfahrungscharakter zurücktritt, sind die Verhältnisse
in der Architektur nicht viel einfacher als bei den lebenden Organismen. Denn bei den
Gebäudeproportionen ist ein Zwiespalt zu überwinden. Die Funktion eines Gesimses ist z.
B. nichts Selbstverständliches wie die der Augen im Gesicht, sie muß sich vielmehr erst
durchsetzen durch die Kraft, mit der sie den Blick auf sich zieht. Andererseits muß der
Bauteil, je gewichtiger er ist, mit desto größerer Zurückhaltung behandelt werden, um
nicht das Gleichgwicht zu zerstören. Auch hier also gewissermaßen ein Parallelogramm
der Kräfte, aus dem sich das harmonische Verhältnis erst ergibt. Aus diesem Grunde gibt
es in der Architektur meist sehr verschiedenartige Lösungen, die gleichberechtigt neben-
einander stehen.
Übrigens müssen wir rückblickend feststellen, daß auch bei den Proportionen lebendiger
Organismen nicht nur die gewußte Bedeutung der Dinge mitspricht, sondern auch der Aus-
druckswert der sinnlichen Formen, die in der genugsam dargestellten Art mit dem Wissen