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Im weite en Verlauf der Untersuchung werden wir die gegenseitige Beeinflussung von Form-
wirkung und Vorstellungsinhalt einbeziehen, und damit wird sich allmählich der Kreis unserer
Betrachtungen runden.
Form werte reiner Sinneskunst
Die Farben und Klänge, von denen wir am Schluß des vorigen Abschnitts sprachen, wirken
zunächst nur auf unsere Sinnlichkeit. Sie sind angenehm oder unangenehm, und zwar als
Einzelreize und in ihrer Zusammenstellung, ganz so wie bei anderen Sinnesreizen, bei
Geruchs-, Geschmacks- oder Tastempfindungen. Dringt eine Vielzahl von Reizen auf uns
ein, so herrscht das Gesetz von der Einheit in der Mannigfaltigkeit, das auf dem Gebiet der
Kunst eine so wichtige Rolle spielt, aber auch im Gebiet des nur sinnlich Angenehmen gilt,
bei erfreulichen Geruchs- und Geschmackszusammenstellungen ebenso wie bei hübschen
Farbkompositionen oder wohlklingenden Akkorden. Unsere Nerven wollen vielseitig be-
schäftigt sein, aber die Eindrücke dürfen nicht zusammenhanglos sein oder sich gegenseitig
schädigen. Je besser sie sich ergänzen, um so erfreulicher sind sie. Auch mit den rhythmi-
schen Eindrücken verhält es sich zunächst nicht anders. Denn ebenso wie die sensiblen wollen
auch die motorischen Nerven angenehm erregt werden. Da unser Körper mit Herzschlag und
Atmung auf bestimmte Zeitmaße eingestellt ist, stehen auch die auf uns eindringenden Reize
im Einklang oder im Gegensatz zu unserem natürlichen Rhythmus und werden danach als
bequem oder unbequem, beruhigend oder erregend empfunden.
Nun gibt es freilich Unterschiede zwischen "niederen" und "höheren" Sinnen, die es ermög-
lichen, daß die "höheren" Sinne über ihre körperlichen Funktionen hinaus zu Trägern von
ästhetischen Erlebnissen werden können. Die durch sie vermittelten Eindrücke werden näm-
lich nie ausschließlich als Reize empfunden, auf die das Subjekt bejahend oder abwehrend
antwortet und von denen man auf ein verursachendes Objekt höchstens schließt, sondern wir
sehen sie als objektive Tatbestände an, die sich in den Reizen offenbaren. Diese Objektivie-
rung wird einmal dadurch gefördert, daß die höheren Sinne unser körperliches Befinden nicht
so stark affizieren wie die niederen, bei denen sich Behagen und Mißbehagen leicht zu Gier
oder Ekel steigern. Vor allem aber lassen sich die Reize der höheren Sinne in weit beträcht-
licherem Maße als gegliederte, in sich zusammenhängende Komplexe auffassen. Die Wirkung
der Einzelreize tritt dadurch für das Subjekt hinter der Bedeutung ihrer gegenseitigen Bezie-
hungen zurück; es kann ein Gestalteindruck entstehen, mit dem sich das Erlebnis objektiver
Existenz verbindet.
Übrigens verläuft die hiermit angedeutete Trennungslinie zwischen höheren und niederen
Sinnen nicht gleichmäßig. Auge und Ohr sind etwa gleichwertig, was die klare Differen-
zierung der Reize und das Übergewicht der Zusammenhänge über die Einzelwirkung anbetrifft;
aber das Ohr steht den niederen Reizen näher, insofern als Töne ein stärkeres Echo in der
Physis finden als Farben oder Linien. Der Tastsinn wiederum läßt sich in gewisser Hinsicht
den höheren Sinnen zurechnen, weil er Gestalteindrücke zu vermitteln vermag. Daß er
trotzdem für die Kunst eine untergeordnete Rolle spielt, liegt daran, daß die Übersicht-
lichkeit der Tastreize, das Tastgedächtnis beschränkt ist, wenigstens beim normalen Men-
schen. So bleiben im allgemeinen nur Auge und Ohr als Träger künstlerischer Erlebnisse
übrig. Die optischen Eindrücke stehen dabei dem Subjekt unzweideutiger als selbständige
Welt gegenüber. Bei Tonerlebnissen unterscheiden wir weniger, ob sie sich in oder außerhalb
von uns abspielen, aber dafür ist die Wirkung unmittelbarer, und es ist kein Zufall, daß wir
bei optischen Eindrücken mehr als bei der Musik des Hinzutretens sachlicher Vorstellungen
bedürfen.
Die besondere Natur der höheren Sinne ist freilich auch zu konstatieren, wo sie noch unge-
nutzt bleibt. Aber solange wir uns passiv den optischen und akustischen Reizen hingeben,
ist ihre Wirkung keineswegs prinzipiell von der aller anderen Sinne verschieden. Die Subli-
Im weite en Verlauf der Untersuchung werden wir die gegenseitige Beeinflussung von Form-
wirkung und Vorstellungsinhalt einbeziehen, und damit wird sich allmählich der Kreis unserer
Betrachtungen runden.
Form werte reiner Sinneskunst
Die Farben und Klänge, von denen wir am Schluß des vorigen Abschnitts sprachen, wirken
zunächst nur auf unsere Sinnlichkeit. Sie sind angenehm oder unangenehm, und zwar als
Einzelreize und in ihrer Zusammenstellung, ganz so wie bei anderen Sinnesreizen, bei
Geruchs-, Geschmacks- oder Tastempfindungen. Dringt eine Vielzahl von Reizen auf uns
ein, so herrscht das Gesetz von der Einheit in der Mannigfaltigkeit, das auf dem Gebiet der
Kunst eine so wichtige Rolle spielt, aber auch im Gebiet des nur sinnlich Angenehmen gilt,
bei erfreulichen Geruchs- und Geschmackszusammenstellungen ebenso wie bei hübschen
Farbkompositionen oder wohlklingenden Akkorden. Unsere Nerven wollen vielseitig be-
schäftigt sein, aber die Eindrücke dürfen nicht zusammenhanglos sein oder sich gegenseitig
schädigen. Je besser sie sich ergänzen, um so erfreulicher sind sie. Auch mit den rhythmi-
schen Eindrücken verhält es sich zunächst nicht anders. Denn ebenso wie die sensiblen wollen
auch die motorischen Nerven angenehm erregt werden. Da unser Körper mit Herzschlag und
Atmung auf bestimmte Zeitmaße eingestellt ist, stehen auch die auf uns eindringenden Reize
im Einklang oder im Gegensatz zu unserem natürlichen Rhythmus und werden danach als
bequem oder unbequem, beruhigend oder erregend empfunden.
Nun gibt es freilich Unterschiede zwischen "niederen" und "höheren" Sinnen, die es ermög-
lichen, daß die "höheren" Sinne über ihre körperlichen Funktionen hinaus zu Trägern von
ästhetischen Erlebnissen werden können. Die durch sie vermittelten Eindrücke werden näm-
lich nie ausschließlich als Reize empfunden, auf die das Subjekt bejahend oder abwehrend
antwortet und von denen man auf ein verursachendes Objekt höchstens schließt, sondern wir
sehen sie als objektive Tatbestände an, die sich in den Reizen offenbaren. Diese Objektivie-
rung wird einmal dadurch gefördert, daß die höheren Sinne unser körperliches Befinden nicht
so stark affizieren wie die niederen, bei denen sich Behagen und Mißbehagen leicht zu Gier
oder Ekel steigern. Vor allem aber lassen sich die Reize der höheren Sinne in weit beträcht-
licherem Maße als gegliederte, in sich zusammenhängende Komplexe auffassen. Die Wirkung
der Einzelreize tritt dadurch für das Subjekt hinter der Bedeutung ihrer gegenseitigen Bezie-
hungen zurück; es kann ein Gestalteindruck entstehen, mit dem sich das Erlebnis objektiver
Existenz verbindet.
Übrigens verläuft die hiermit angedeutete Trennungslinie zwischen höheren und niederen
Sinnen nicht gleichmäßig. Auge und Ohr sind etwa gleichwertig, was die klare Differen-
zierung der Reize und das Übergewicht der Zusammenhänge über die Einzelwirkung anbetrifft;
aber das Ohr steht den niederen Reizen näher, insofern als Töne ein stärkeres Echo in der
Physis finden als Farben oder Linien. Der Tastsinn wiederum läßt sich in gewisser Hinsicht
den höheren Sinnen zurechnen, weil er Gestalteindrücke zu vermitteln vermag. Daß er
trotzdem für die Kunst eine untergeordnete Rolle spielt, liegt daran, daß die Übersicht-
lichkeit der Tastreize, das Tastgedächtnis beschränkt ist, wenigstens beim normalen Men-
schen. So bleiben im allgemeinen nur Auge und Ohr als Träger künstlerischer Erlebnisse
übrig. Die optischen Eindrücke stehen dabei dem Subjekt unzweideutiger als selbständige
Welt gegenüber. Bei Tonerlebnissen unterscheiden wir weniger, ob sie sich in oder außerhalb
von uns abspielen, aber dafür ist die Wirkung unmittelbarer, und es ist kein Zufall, daß wir
bei optischen Eindrücken mehr als bei der Musik des Hinzutretens sachlicher Vorstellungen
bedürfen.
Die besondere Natur der höheren Sinne ist freilich auch zu konstatieren, wo sie noch unge-
nutzt bleibt. Aber solange wir uns passiv den optischen und akustischen Reizen hingeben,
ist ihre Wirkung keineswegs prinzipiell von der aller anderen Sinne verschieden. Die Subli-