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Aufbau eigener Kirclienformen in den Gebieten, die sich von Rom losgesagt hatten. Auf
dem Reichstag von Augsburg 1530 wurde von den protestantischen Ständen das Bekenntnis
verlesen, in dem die Glaubensaussagen zu allen Punkten der Lehre und allen Gebieten des Le-
bens der Kirche niedergelegt waren. Freilich wurden sie ebensowenig von der kaiserlichen
Zentralgewalt und von Rom anerkannt, wie Luthers persönliches Bekenntnis 1521 in Worms.
Die neuen Ordnungen entstanden, die deutsche Messe für den Gottesdienst, der Katechismus
für den Unterricht, die Visitationsartikel für die Rechtsordnung der Kirche; es entstand mit
dem Wegfall des Mönchtums und des auf den »guten Werken« aufgebauten Lohngedankens
ein neues Ethos der Arbeit in den Berufen, unmittelbar zu Gott. Das große Reformprogramm
des Jahres 1520 begann sich zu verwirklichen. Immer stand aber im Hintergrund die Grund-
auffassung, was Kirche sei, wie sich das Reich Gottes in dieser Welt verwirkliche. 1539 hatte
Luther es noch einmal in seiner Schrift »Von Konziliis und Kirchen« dargelegt. Klassisch blieb
aber immer die so einfache und allen verständliche Formulierung aus dem Augsburgischen
Bekenntnis von 1530 im Artikel »Von der Kirche: sie ist die Versammlung aller Gläubigen,
bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament laut des Evangelii ge-
reicht werden«.

Also kein Versuch oder Anspruch, in irgendwelcher direkten Weise die Gottesherrschaft auf
Erden zu verwirklichen, sondern die irdische Form, in der Evangelium, Gebot und Verhei-
ßung den Menschen immer wieder in Wortverkündigung und Sakrament begegnen und in
der die Menschen im rechten Aufnehmen dieser Botschaft »täglich den alten Adam in sich er-
säufen, damit der neue geboren werden kann«. Der Christ wie die Kirche ist nicht im verfüg-
baren Sein, sondern immer im Werden. Voraussetzung für solche Realisierung des Mensch-
werdens, des Gott-recht-Seins, das dann, wie der Baum die Frucht, rechtes Tun bringt, ist die
erste der 95 Thesen: »Unser Herr und Meister Jesus Christus, da er spricht ,Tuet Buße‘, wollte
er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen eine ständige Buße sei.«

Sichtbar und hörbar geschieht auf allen vier Gemälden der Vorderseite das gleiche, und zwar
in der gegenwärtigen damaligen Gemeinde: im rechten Verkündigen, in rechter Aufnahme-
bereitschaft verwirklicht sich das Christwerden des einzelnen, verwirklicht sich Gemeinde,
Kirche. Dies ist die Grundnorm ihrer Erkennbarkeit auf Erden; dies sind aber auch die not-
wendigen Elemente für das Leben der Kirche: das Wort vom gekreuzigten Herrn, die von
Christus eingesetztenheiligenLichtzeichen der Sakramente auf unserem Lebens weg: dieTaufe,
in deren sichtbarer Form uns das Geheimnis des Hineingetauchtseins des Christen in Tod und
Auferstehung Christi begegnet, und das Abendmahl, die sich immer neu verwirklichende Ge-
meinschaft mit Christus. Die Beichte als das Wort der Vergebung, des Freispruches ist heute
im Gemeindebewußtsein nur zu sehr mit der allgemeinen Beichte vor dem Abendmahl ver-
bunden. Aber die hier gezeigte Einzelbeichte hat Luther nie abgeschafft, nur ihre Zwangsvoll-
ziehung. Zahllose Beichtstühle des 16., 17., 18. und noch 19. Jahrhunderts in evangelischen
Kirchen bezeugen es, daß erst das 19. Jahrhundert weithin das Wissen um die Bedeutung
dieses Altarbildes verloren hatte.

Eine solche Bilderfolge von Wesen und Grundlage der Kirche ist damals ein Bekenntnisakt
der Gemeinde gewesen, der sich zugleich gegen den Vorwurf und die gegenreformatorische
Kampfansage der Papstkirche wandte: Ihr steht außerhalb derTradition, ihr seid nicht Kirche,
 
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