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Ueberlebsel in der Cultur.

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kochen; aus einem ähnlichen Grunde hielten sie es für eine Sünde,
in heissen Quellen zu baden, und glaubten mit Furcht an einen
fischähnlichen Meergeist, den sie Mitgk nannten1). Dieser Geister-
glaube der Kamtschadalen bildet ohne Zweifel den Schlüssel zu
ihrem Aberglauben wegen der Errettung Ertrinkender. Selbst im
modernen europäischen Aberglauben findet sich nicht nur die Be-
folgung desselben, sondern auch ein schwaches Ueberlebsel seiner
alten spiritualistischen Bedeutung. In Böhmen, sagt ein neuerer
Bericht (1864), wagen die Fischer nicht, einen Ertrinkenden aus
dem Wasser zu ziehen. Sie fürchten, der „Wassermann“ (d. h.
„Wassergeist“) werde ihnen ihr Glück beim Fischen entziehen und
sie selbst bei der ersten Gelegenheit ertränken2). Diese Erklärung
des Vorurtheils gegen die Errettung der Opfer des Wassergeistes
liesse sich durch eine Menge von Zeugnissen aus verschiedenen
Gegenden der Erde bestätigen. Wenn wir die Lehre vom Opfer
zu besprechen haben werden, wird es sich zeigen, dass die ge-
wöhnliche Form, wie man einem Brunnen, einem Flusse, einem
See oder einem Meer ein Opfer darbringt, die ist, dass man einfach
Schätze, Vieh oder Menschen in das Wasser wirft, welches sie
persönlich oder durch die in ihm hausenden Geister in Besitz
nimmt3)- Dass das zufällige Ertrinken eines Menschen für eine
solche Ermächtigung galt, zeigt der wilde und civilisirte Volks-
glaube in vielen Beispielen. In Neuseeland leben ungeheure, über-
natürliche Reptilien-Ungethüme, Taniwha genannt, in den Fluss-
Niederungen und ziehen die Ertrinkenden hinunter4); die Siamesen
fürchten sich vor den Pnük oder Wassergeistern, welche die
Badenden ergreifen und sie in ihre Wohnungen hinabziehen5); in
slavischen Ländern ist es der Topielec (der Taucher), welcher die
Menschen zu ertränken pflegt6); wenn Jemand in Deutschland
ertrinkt, so erinnern sich die Leute der Religion ihrer Vorfahren und
sagen: „Der Flussgeist fordert sein jährliches Opfer“ oder einfacher:
„Die Nixe hat ihn geholt“7):

’) Steller, „Kamtschatka“, S. 265, 274.
J) J. V. Grohmann, „Aberglaube und Gebräuche aus Böhmen“, S. 12.
3) Kap. XVIII.
4) B. Taylor, „New Zealand“, p. 48.
5) Bastian, „Oestl. Asien“, Ed. III, 8. 34.
G) Hanusch, „Wissenschaft des slawischen Mythus“, 8. 299.
7) Grimm, „Deutsche Myth“, 8. 462.
 
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