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Theorie

Theory

Abraham A. Moles
Die Krise des Funktionalismus
Notizen aus einem Seminar an der HfG
Januar 1967

Functionalism in Crisis
Notes of a seminar held at the HfG in January 1967

Der Funktionalismus ist vor allem durch die Bemühungen der
Bauhausmitglieder zu einer einflußreichen Doktrin der modernen
Gestaltung geworden. Er bezog seine Kräfte aus der Ablehnung
des bourgeoisen Kitsch des 19. Jahrhunderts. Zwar hat sich der
Funktionalismus weitgehend durchgesetzt; aber eben damit auch
ist er in eine Krise geraten. Die Doktrin des Funktionalismus
besagt, daß die Gegenstände wesentlich durch ihre Funktion
bestimmt sein sollen. Der Funktionalismus kämpft also gegen alles
das, was über die bloße Funktion hinausgeht, insbesondere
gegen die Dekoration. Der Gegenstand muß allen an ihn gestellten
Anforderungen genügen, zum Beispiel eine bestimmte Lebens-
dauer haben, Betriebssicherheit garantieren, sich Störungen durch
äußere Einflüsse widersetzen u. ä. Daraus ergibt sich die Magna
Charta des Funktionalismus, das Nutzlose und Überflüssige zu
reduzieren. Die Produktion soll also durch die Funktion bestimmt
sein. Objekte ohne Funktionen kann der Funktionalismus also
nicht akzeptieren. Funktionalismus ist wesentlich asketisch und
Ausdruck einer bestimmten Lebensauffassung: der Sparsamkeit,
der rationalen Verwendung vorhandener Mittel zu eindeutig
bestimmten Zwecken.
Innerhalb bestimmter Sektoren der Produktion und Konsumtion
wird der Funktionalismus gewiß seine Gültigkeit bewahren.
Doch ist der Funktionalismus in der jüngsten Periode der west-
lichen Zivilisation in das Kräftefeld der Überflußgesellschaft
gerückt. Die Überflußgesellschaft als Wirtschaftsphilosophie wird
durch die Vorstellung bestimmt, daß die industrielle Produktions-
maschinerie permanent laufen muß, das heißt, daß der Konsument
zu permanentem Konsum stimuliert wird. Konsumsphäre und
Produktionssphäre sind zu einem Kreislauf geschlossen, der ein
immer intensiveres Tempo annehmen muß. Der Funktionalismus
widersetzt sich notwendig der Philosophie der Überflußgesellschaft,
die rücksichtslos produzieren und verkaufen will. Schließlich geht
der Funktionalismus darauf aus, die Zahl der Gegenstände zu
reduzieren und eine optimale Anpassung an die Bedürfnisse zu
erreichen. Der Produktionsapparat der Überflußgesellschaft jedoch
verfolgt eine entgegengesetzte Richtung. Er schafft ein System
von Neokitsch, indem Gegenstände bei den Menschen angehäuft
werden. Darin äußert sich die Krise des Funktionalismus: zwischen
dem Neokitsch des Kaufhauses auf der einen Seite und dem
Asketismus der Funktionserfüllung auf der anderen Seite. Aus
diesem Dilemma bieten sich einige Auswege an:
Zunächst das Prinzip der “eingebauten Veralterung“; in das
Produkt werden künstlich Funktionspannen eingebaut,
systematisch und willkürlich, wodurch das Produkt nach einer
bestimmten Gebrauchszeit ausfällt (Nylonstrümpfe, Eisenblech,
Autokarosserien).
Dann die Sakralisierung des Neokitsches. Demzufolge wird Kitsch
als eine neue Kunstform anerkannt, deren Wert in der Anhäufung
an sich besteht.
Weiterhin schließlich eine verstärkte Werbung, mittels derer der
Konsument dauernd unter Druck gesetzt wird (Konsumterror).

Functionalism has become an important doctrine of modern design
to a great extent by the endeavours of the Bauhaus people.
It was directed against the bourgeois kitsch of the 19th Century.
The doctrine of functionalism, though generally acknowledged, has
moved now into crisis through this very success. Functionalism
holds that objects shall be determined primarily by function. Thus
functionalism attacks everything which is transfunctional, i. e.
especially decoration. The object has to fulfill its specifications, e. g.
a certain durability, reliability, resistance against external hazards
etc. The Magna Charta of functionalism reads: reduce the
purposeless and superfluous elements. Production consequently
shall be determined by function. Objects without function and
purpose cannot be accepted by functionalist doctrine which is
essentially an ascetic doctrine and manifestation of a certain
philosophy of life: that of scarcety, of rational application of
existing means for clearly defined purposes.

Within certainsectors ofproduction and consumptionfunctionalism
will retain its validity. But recently functionalism in Western
culture has entered a critical period due to the growth of affluent
society.
Affluent society as an economical theory purports that the
machinery of production has to run permanently; therefore the
consumer has to be stimulated to consume at any price.
Consumption and production are linked into a combined System
which runs at an ever increasing speed. Functionalism neces-
sarily contradicts the doctrine of affluent society which is forced
to produce and to seil relentlessly. Finally functionalism tends
to reduce the number of objects and to realize an optimal fit
between products and needs, whereas the production machinery
of affluent society follows the opposite direction. It creates a
System of neokitsch by accumulating objects in the human
environment. At this point the crisis of functionalism becomes
manifest. It is torn between the neokitsch of the supermarket on
the one side and ascetic fulfillment of function on the other side.
There are various ways to get out of this dilemma:

First, the technique of ‘incorporated obsolescence'; artificial
breakdowns of function are bullt into the product which after a
certain use period will collapse (nylon stockings, sheet metal, car
bodies). Second, the sanctification of neokitsch, according to
which kitsch is recognised as a new form of art the value of which
consists in accumulating for the sake of accumulating.
Third, the intensified advertising which puts the consumer under
permanent pressure (consume terror).

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