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gegenüber hat er vor seiner Abreise nach Rom
das direkte Gegentheil behauptet und also
wohl einmal sich geirrt! Wann aber: als er in
der ,Donauztg.' jene Erklärung erließ, oder als er sich
des Besitzes jener Empfehlungsschreiben vor den „liberalen"
Kammerkollegen rühmte? —

Von der heidelberger Jubelseier.

Heibelberg, 6. August. Der dritte Tag (Mittwoch)
war ein Tag der Reden. Kuno Fischers Festrede nahm den
ganzen Morgen in Anspruch. Auch am Nachmittag sollten wieder
Worte von Bedeutung gesprochen werden. Es war nämlich auf
diese Zeit das Festmahl im Museum für die Elite der Jubi-
läumsgäste, — ungefähr 400 an der Zahl — sestgesetzt. Der
Kronprinz und der Großherzog sowie der Hof nahmen an
demselben Theil. Der Großherzog eröffnete nach dem sechsten
Gange die Reihe der Trinlsprüche, worauf der deutsche Kron-
prinz erwiderte. (Diese Toaste haben wir auszüglich bereits
gebracht. D. R.) An einem Hoch auf den Großherzog, das
einen allgemeinen Jubel hervorrief, gipfelten des deutschen Kron-
prinzen Worte.

Später toastete Graf Berlichingen auf das großherzog-
liche Haus, der Prorektor Prof. Bekker anf den Kron-
prinzen, Minister Nokk auf die Gäste rc. Schließlich dankte
der Oberbürgermeister Dr. Wilkens im Namen der gefeierten
Stadt.

Einen in jedem Sinne glänzenden Abfchluß sand der dritte
Festtag durch den von der gesammten Studentenschaft dem Rsctor
rnaxnrüosntissiinns dargebrachten Fackelzug. Gegen 3000
Fackeln flammten in dem Zuge, der etwa drei Viertel Stunden
zum Passiren einer Stelle gebrauchte. Während des Zusammen-
wersens der Fackeln auf dem Universitätsplatze, der einem
Flammenberge glich, wurde das „Gaudeamus" kräftig wie nie
gesungen.

Die ehemaligen Korpsstudenten vereinigten sich noch in später
Nachtstunde zu dem speziellen 8. 6.-Kommers in der Festhalle.
Der vicrte Tag (Donnerstag) gehörte der Ehrenpromotion,
die in der Heiligengeistkirche stattfand. Die großherzogliche Fa-
milie war auch zu diesem Festakte wieder erschieneu.

Jn der die Promotion vorbereitenden Rede erklärte der
Prorektor, daß die Universität mit der Berleihung des Doktor-
titels üonoris oausa kein Geschenk gebe, sondsrn einen „verdienten
Ehrensold" zahle.

Daraus wurden durch die Dekane der Fakultäten die 52
Ehrendoktoren verlesen. Wir erwähnen aus der langen Reihe:
den Großherzog Friedrich von Baden und den Erbgroßherzog
von Baden, Rudolph von Bennigsen, Roscoe, Nordensköld,
Graham Bell, Werner Siemens, Enrico Stevenson, den päpst-
lichen Abgesandten und Hauchecorne. Der Letztere, Direktor der
Bergakademie in Berlin, ist ein geborener Aachener. Der erstc
Chor aus dem dettinger „Ds Osum" bildete den Schluß der
Feierlichkeit.

Am Donnerstag Nachmittag wurden ca. 400 Auserwählte
von dem Großherzog zur Galakour und Hoftafel nach Karls-
ruhe geladen, wohin sie mittelst Extrazuges befördert wurden.

Am Freitag fand der historische Festzug statt, welcher
programmgemäß verlief. Derselbe machte durch historische Treue
der Trachten und Geräthe, wie durch Farbenpracht und den
Reichthum der Stoffe einen großartigen Eindruck. Die volle
Entwickelung des Zuges dauerte dreiviertel Stunden. Der Groß-
herzog mit Familie, dem Porektor und den Dekanen sah von
dem Pavillon, wo der Zug zweimal passirte, zu. Die Delegirten
und Ehrengäste standen auf der nahe dabei befindlichen Tribüne.
Der Großherzog von Hessen sah inkognito vom Fenster des
„Darmstädter Hofs" zu. Jn den Straßen wogte cine Kopf an
Kopf gcdrängte Menge. Die Ordnung wurde nirgends gestört.

Lokalrr«rchrichten.

Aacheu, 8. August.

Il Ltadtverordnetensitzung vom 6. August. Anwesend
untsr dem Borsitz des Oberbürgermeisters Herrn Pelzer: der
Beigeordnete Herr Zimmermann, sowie 9 Mitglieder, nämlich
die Herren: Herz, Michels, Oster, Reiß, Schaffrath, Schervier,
Statz, Schmitz, Dr. Sträter und Vossen.

Vor Eintritt in die Tagesordnung theilt der Vorsitzende ein
Schreiben der Schulvorsteherin Fräulein Heckenbach mit, worin
dieselbe die Versammlung zur Theilnahme an der mit der
Schlußseier verbundenen Sedanfeier der Anstalt, welche am
13. August Nachmittags 3 Uhr in der Aula deS Schullokales
auf Bergdrisch stattfindet, einlädt.

Der erste Punkt der Tagesordnung betrifft die Annahme
eines Legates für das Vincenzkpital in Höhe von 12,000
Mark, woran die Geberin Josephine Adenaw die Bedin-
gung geknüpst hat, daß aus diesem Fonds 3 jährliche Renten
von 150, 120 und 90 M., in Summa 360 M., an näher be-
zeichnete Personen der Berwai dlschaft der Erblasserin gezahlt
werden sollen. Die Armenverwaltung bittet um die Erlaubniß
der Annahme des Legates, damit die erforderliche landesherrliche
Genehmigung eingeholt werden könnc. Die Versammlung ist
natürlich hiermit einverstanden.

Zu Position 2, Kredit für eine, auf dem Civilstandsbureau
zu bewerkstelligende Vertheilung der Broschüre: „Belehrung über
die Ernährung der Säuglinge von Dr. Reimann,"
bemerkt der Vorsitzende, daß die besagte Abhandlung von dem
geh. Sanitätsrath Dr. Schervier wegen ihrer Faßlichkeit und
Irefflichen Kürze empsohlen werde. Wie er aus einer Zusammen-
stellung eines hiesigen Blattes (,Echo der Geg/) ersehe, sei die
Sterblichkeit unter den Säuglingen eine unverhältnißmäßig
große; Unterweisungen und Belehrungen der Eltern erschienen
daher angezeigt. Das Finanzkomite schlägt die Anschassung
von 4000 Exemplaren, welche einen Kostenauswand von.160 M.
erfordern, für 1 Jahr vor, welchem Antrage die Versammlung
zustimmt.

Position 3. Der Präsident der Ortskrankenkasse II
hat an die Versammlung ein Schreiben gerichtet, in welchem er
um ein Darlehn von 5000 M. bittet, da er die fälligen Aus-

und als Jntroduktion des solgenden Dialogs dienen, welcher

vor Kurzem zwischen mir und einem meiner ältesten Freunde
stattfand.

„Wie? Du bist hier in dcr Hauptstadt?" ftagte ich erstaunt,
denn seit vier Jahren hatte ich ihn nicht gesehen.

„Jawohl. Seit vierzehn Tagen bin ich wi.der hier und
werde hier bleiben. Der Minister war so liebenswürdig, mich
von meinem Posten in der Provinz abzuberusen und mir ein
Plätzchen im Ministerium einzuräumen."

„Das ist herrlich!" rief ich erfreut. „Wir werden jetzt recht
oft dic Abende in alter Freundschast verbringen."

„Das wird kaum möglich sein," entgegnete er. „Du weißt,
daß ich geheirathet habe, und weißt vielleicht nicht, daß ich ein
Kind besitze."

„Ein Kind!" schrie ich entsetzt auf.

„Ein reizendes Kind!" meinte der Vater besänftigcnd. . . .
„Jch weiß wohl, daß Du die kleinen Kinder nicht besonders
lieb hast."

„Zwillinge auSgenommen", warf ich ein.

„Du liebst sie alle nicht," fuhr er unerschütterlich fort, „aber
ich sage Dir, mein Richard ist nicht wie andere Kinder. Er ist
so klug, so lieb, so brav, so elegant, so geschickt . . ."

„Pardon", unterbrach ich ihn. „Pardon. ich hätte eine
Frage: Sage mir, singt Dein Richard auch?"

„Du willst fragen: ob er dann und wann zu schreien
pflegt?"

„Jawohl. Aber ich weiß, daß den Eltern das Geschrei
ihrer Kinder Spährengesang zu sein scheint. Jch allerdings bin
anderer Ansicht und ich verstehe, aufrichtig gestanden, nicht,
warum die Jsraeliten, die sich doch stets des reichsten Kinder-
segens zu erfreuen hatten, die singenden Kleinen nicht unter die
egyptischen Plagen aufgenommen haben.

„Jch bitte Dich, verletze meine heiligsten Vatergefühle nicht!"
schrw er auf, doch dann besann er sich eines Besseren, und
lächelnd sagte er: „Jch willDich von Deiner Kinder-Jdiosynkrasie
heilen. Jch lade Dich für den nächsten Sonntag zum Mittageffen
ein. Du sollst meinen Richard kennen lernen!"

Jch wollte die Einladung ablehnen, aber er bat so lange,
biS ich weich wurde und ihm mein Wort gab, zu kommen. WaS
war aber auch weiter dabei? Jch werde gewiß besser essen als
im Gasthausc, und das Kind, das „reizende Kind," wie der
Vater meinte, wird mich hoffentlich nicht verspeisen.

* . *

Sonntags berührte ich zur festgesetzten Stunde den elektrischen
Glockenknopf an der Thür meines Freundes. Ein manierliches
Stubenmädchen öffnete mir. Das war ein gutes Omen, aber
kaum war ich ins Vorzimmer getreten, so hörte ich schon einen
Kanarienvogel singen. Was sage ich? Singen ist nicht das
richtige Wort. Der Bogel schrie, brüllte, donnerte! Für mich
kann es nämlich keinen schrecklicheren Singvogel geben, als das
von den kanarischen Jnseln eingeschleppte, himmelschreiende gelbe
Fieber, welches leider sast in jedes anständige Haus Europas
ei gedrungen ist! Jch wollte entfliehen, aber das Stubenmädchen

gaben von 4360,01 M. nicht leisten könne. Um allen finanz'ellen
Kalamitäten sür die Zukunft vorzubeugen, sollen die Beiträge von
R/g Proz auf 3^/^ Proz. erhöht werden, die Regierung hat aber
nur eine Erhöhung auf 3*/g Proz. bewilligt. Das Finanzkomite
empfiehlt die zinsensreie Gewährung des Darlehens unter folgen-
dem Modus der Rückzahlung: die überwiesene Summe von 50M
M. ist in vier sechsmonatlichen Raten L1250M. zurückzuzahlen;
erfolgt die Einzahlung der Letzteren nicht an dem festgesetztcn
Termine, so versällt das ganze Darlehen, und sind außerdem
4 Proz. Zinsen von demselben, vom Tage der Darleihung an
gerechnet, zu zahlen. Die Verjammlung erklärt sich hiermii ein-
verstanden.

Pos. 4, betreffend die Feststellung der Armenrechnung
von 1883/84. Der Etat weist auf an Einnahmcn 833,810.06 M.
Einnahmerest 36,224.32 M. Ausgaben 714,851.81 M., Aus-
gaberest 44,995.20 M., mithin bleibt ein Ueberschuß von
110,187.37 M. Die Versammlung ertheilt die nachgesuchte
Decharge.

Position 5 betrifft die Jnstandsetzungsarbeiten ai« Leichen-
h ause und die Verlegung der Gärtnerei auf dem kath. Kirch-
hofe. Der von den städtischen Komites vorgeschlagene Kredit
von 250 M. zur Ausführung nothwendiger Reparaturcn an dem
Leichenhause wird bewilligt. Von dem Neubau eines Leichen-
hauses wird vorderhand Abstand genommen, da die Verhand-
lungen über die obligatvrische Leichenschau, welche man in
nächster Zeit einzuführcn gcdenkt, Gelegenheit zu weiteren Be-
rathungen geben werden. Hinsichtlich der Gärtnerei wird eine
Zusammenlegung der einzelnen Anpflanzungen auf das Terrain
der Fluren 31 und 32 (an der Peliserkergasse) beschlossen, so
daß die Anstellung nur eines Aufsichtsbeamten für die Folge gc-
nügen wird.

Position 6. Das Baukomite empfiehlt die Anschaffung
eines Nivellirinstrumentes, das für Hochbauten von
größercr Ausdehnung sich als genügend erweise. Der Preis
eines solchen beträgt M. 420, die ohne Widerspruch bewilligt werden.
Die Beschasfung eincs die Niederschläge registrirenden Regen-
meffers aus den laufenden Etatsmitteln des Realgymnasiums
findet nach einiger Diskussion die Zustimmuug der Versammlung.
Der Apparat, der für klimatologische Beobachtungen ein schätzens-
werthes Material an die Hand gibt, kostet 220 M. und wird
der Kontrole des Herrn Professors Dr. Sieberger, dem wir be-
reits eine Reihe von eingehenden Beobachtungen und Publikatio-
nen über die hiesigen Witterungsverhältniffe verdanken, unter-
worfen sein.

Position 7. Die Versammlung erklärt sich gemäß den Vor-
schlägen der städtischen Komites niit der Bewilligung eines Kredits
von 53(0 M. zur Bordsteinverlegung und Banketherstellung in
der Rosstraße einverstanden. Dieselbe wird dadurch mehr in
einen regulirten Zustand vcrsetzt werden.

Nach längerer Disknssion gelangen Punkt 8 und 9 der
Tagesordnung, die Projekle für den Elementarschulneubau
in der Fried ensstraße und für den Neubau der Real-
schule mit Fachklassen betreffend, ebcnfalls nach den Vor-
schlägen des Baukomites zur Annahmc. Hinsichtlich dcs Elementar-
schulbaues wurde Vvn verschiedenen Seiten aus sanitären und
anderen Rücksichten auf das Bedenkliche, 18 starkbesuchte
Klassen in einem Hause zu vereinigen, aufmerksam gemacht.

Bor Schluß der Sitzung wird eine Anfrage an den Vor-
sitzenden gestcllt, wie weil die Berhandlungen hinsichttich der Be-
schaffung und Jnstallirung eines Gespannes sür die zweite Feuer-
wehrkompagnie gediehen seien? Der Vorsitzende theilt mit, daß
man bei der Ausführung des ersten Projektes auf Schwierig-
keiten gestoßen sei, weßhalb man zur Ausarbeitung eines ander-
weitigen Planes geschritten sei. Es knüpft sich hieran eine Jnter-
pellation wegen des am Freitag, den 6. d. M., stattgehabten
Brandes in dem Etablissement von I. P. I. Monheim in der
Antoniusstraße.

Es wird dem Wunsche Ausdruck gegeben, Konzessionen zur
Lagerung seuergefährlicher Gegenstände im Centrum der Stadt,
und namentlich inmitien enger, winkeliger Gassen zu bcschrän-
ken beziehungsweise nicht mehr zu ertheilen. Der Vor-
sitzcnde erklärt, daß ihm eine unmittelbare Einwirkung hierauf
nicht zustche, die Jnitiative vielmehr von der Polizeiverwaltung
ausgehen müssc. Er werde indeß nicht versäumen, sein besonde-
res Augcnmerk auf diese Angelegenheit zu richten.

Der Rest der Tagesordnung: Bauer.uubn'.sgesuche, Reguli-
rung einer Kanalangelegenheit, Disposition bezügl. dcs Grund-
stückes Ursulinerstraße 20, Bestimmung wegen einer Gehalts-
zahlung, Antrag auf Bewilligung eincr Remunneratiou, Besetzung
der Ausseherstelle für die Pflastcrarbeiten, Desgl. der Thcater-
meisterstellc wird in die gehcime Sitzung verwiesen. Schluß der
öffentlichen Sitzung 6^ Uhr.

Wie wir vernehmen, soll in der geheimen Stadtrathssitzung
Herr Reichmann zum besoldeten, städtischen Theatermeistcr
ernannt worden sein.

* Die Ferien an sämmtlichen höhercn Schulen sowie an
den Elementarschulen beginnen am 14. ds. Mts.

* An der technische» Hochschnle hierselbst beginuen die
Jmmatrikulationcn für das Wintersemcster am 1. Oktobcr, die
Borlesungen am 11. Oltober. Programmc übersendet aus Er-
suchen das Sekretariat.

* Landwirthschaftliche Zölle. Auf Grund einer seitens
der Herren Minister des Jnnern und der Finanzen festgestellten
Nachweisung der den Konimunalverbäiiden aus den landwirth-
schaftlichen Zöllen dss Etatsjahres 1885/86 zu überweisenden
Beträge entsällt auf den Regicrii-g^bezirk Aachen mit 541,743
Einwohnern der Betrag von 80,740 M. Hieran partizipirt der
Stadtkreis Aachen bei 94,608 Einwohnern mit 16,122 M, der
Landkrcis Aachen bei 111,115 Einwohnern mit 13,209 M., sowie
dic Kreise Düren bei 75,939 Einwohnern mit 12,575 Mark,
Erkelenz bei 37,766 Einwohnern mit 6650 M., Eupen bei
26,373 Einwohnern mil 3835 M., Gcilenkircheu bei 25,994 Ein-
wohnern mit 4529 M., Heinsberg bei 35,796 Einwohnern mit
4387 M., Jülich bei 40,216 Einwohnern mit 9451 M., Mal-
medy bei 30,439 Einwohnern mit3247M., Montjoie bei 18,607
Einwohnern mit 1860 M. und Schleiden bei 44,890 Einwohnern
mit 4875 M.

* Aachener Karlsschützengilde. Die Preise dcr Gilde

für das morgen beginnende und Montag, Dinstag, Donnerstag
und Sonntag fortgesetzte bezw. beendete Scheiben-, Ehrenpreis-
und Damenvogelschießen sind im Schaufenster des Geschäftes des
Herrn La Ruelle, Kapuzinergraben 11, zur Ansicht ausgestellt.
(,Pol. Tagebl?)

* Aus dem Polizeibericht. Borgestern Mittag skanda-
lirte ein in der Gasbornstraßewohnender, mehrfach bestrafter
und erst kürzlich aus dem Zuchthause entlassener Mensch derart,
daß Polizeibeamten requirirt werden mußten. Der betr. Mensch
wiedersetzte sich nicht nur, sondern griff die Beamten mit einem
Stuhlbein unter den gemeinsten Schimpsworten an. Er wurde
selbstredend festgenowmen und sieht, da er auch noch seine Frau
vorsätzlich körperlich mißhandelt hattc, seiner Bestrafung entgegen,
weßhalb er gestern oem zuständigen Richter vorgesührt wurde.

* Gefitnderrr ein paar neue Damen-Glacöhandschuhe.
Abzuholen Pontstraße 13, Bureau Nr. 12.

* Abhanden gekommen: cine Mappe mit Büchern
(Journale); wer darüber Auskunft geben kann, wird gebeten,
dicselbe nach Pontstraße 13 gelangen zu lassen.

Proviirzielle Nachrichten.

* Stolberg, 6. Aug. Wir lesen im eschweilerer ,Kathol.
Sonntagsbl/: Am vorigen Donnerstag ertrank dcr Nachi-
wächter ciner hiesigen Gewerkschaft in einem der auf Münster-
busch befindlichcn Löcher, welche mit Wasser angefüllt sind. Es
ist dieses der zweite Fall in wenigen Woche». Hoffentlich wird
man jetzt endlich für Schutzvorrichtungen sorgen. ^ Ein Reisen-
der, einer hiesigen geachteien Firma verschwand plötzlich, nachdcm
er vorher noch bei einigen Kunden vorgesprochen und Gcld sür
die Firma erhoben hatte. Der Priuzipal, welcher dem reise-
lustigen Kommis nachreiste, traf ihn in Antwerpen wieder und
veranlaßte die Verhastung dessclben. Die Auslieferung an die
hiesige Gerichtsbehörde wird auf diplomatischem Wcge bc-
werkstclligt.

* Montjoie, 5. Aug. Wie das Montj. Volksbl/ schrcibt,
wird der hochw. Herc Bischos Dr. Felix Korum von Trier
behufs Spendung des h. Sakramentes derFirmung in derWoche
zwischen dem 22. und 29. cr. in unserem Dekanate eintreffcn.

* Schleiden, 6. Aug. Als vor acht Tagen die mechernichcr
Prozession nach Remagen mit dem ersten Zuge Morgens nach
Meckenheim suhr, ist auch ihr das Geschick nicht erspart gcblieben,
in sog. Kouliß- oder Viehwagen sich transportiren zu
lassen. Es liegt darin eine Rücksichtslosigkeit gcgen das katholische
Publikum, die so oft gerügt werden wird und muß, bis eine
Abstellung dieses Mißbrauchs erfolgt. Die ermäßigten Preise sind
in Wirklichkeit dann keine Ermäßigung mehr, sondern cine
Preissteigerung. sMan ist neugierig, wie es mit dem Pilger-
zuge nach Kevelaer am 16. August wird gehalten werden.

* Erkelenz, 7. Aug. Das ,Erkel. Kreisblatt' schreibt: Eine
Zigeunerkarawane von 58 Personcn mit 5 Wagen, wclche
im Regierungsbezirk Minden in Wcstfalen ausgegriffen worden
und von da aus per Schub nach ihre Heimath, Belgien, 'trans-
portirt wird, langte am Mittwoch Mittag, von Gladbach her-
kommend, wo sie Nachts vorher kampirt hatten, hier an und
wurde der von ihrer Aiikunft avisirten Polizeimannschast vor der
Stadt empfangen und sodann durch die Promenade um die Siadt
herum zum Maarthor geführt, so daß die hiesige Einwohner-
schaft von dem lästigen und impertinent zudringlichen Bettelpack
gänzlich verschont blieb. Jhr Zwangsreisepaß zeigte den Weg nach
Aachen resp. zur belgischen Grenze.

* Carneu, 5. August. Das Presbyterium der evan-
gclischen Gemeinde erläßt anläßlich der Kirchhofsang elegen-
heit solgendc Erklärung: „Als am 24. Juli Morgens früh die
nach Unna ziehenden katholischen Firmlinge in feierlicher Pro-
zession ohne die gesetzlich vorgeschriebene Genehmigung ihren
Wcg über unseren Kirchplatz genommen hatten, machte unser
dcrzeitiger Vorsitzcnder, Herr Pfarrer Bertelsmann, svfort davon
Anzeige bei dcr Polizei, um eine Wiederholung zu verhindcrn.
Als jedoch am Nachmittag eie Prozession wiedcr über den
Kirchplatz ziehen wollte und kein Anderer zur Hand war, diese
unbefugte und ungcsctzliche Handlung zu untersagsn, so trat
Herr Pfarrer Bertelsmann an den Zug heran und protestirte
mit wenigen ruhigenWorten bei dem den Zug leitenden sremden
Geistlichen gegen die Prozessivu, durch welche auf dem Kirch-
platz, also auf dem Eigenthum unserer evangelischen Gemcinde,
eine katholische gottesdienstliche Handlung ausgeübt wurde. Dies
ist die einsache Thatsache. Was in katholischen Zeitungen weiter
hinzugefügt wurde, ist feindsclige Entstellung oder persönliche
Gehässigkeit, nnd gchen wir nicht weiter darauf ein. Wir be-
merken aber, daß die Katholiken bereits ftüher mehrfach versucht
haben, mit ihren Prozessionen über unssren Kirchplatz zu zieheu,
so iu den Jahren 1850 und 1868. Es ist dics damals von den
Pfarrern Ovenbeck und Pröbsting gehindert worden. Wir haben
die Aufgabe, dies auch ferner zu verhindern und unsere Eigen-
thumsrechte zu wahren, und sind unserm Herrn Pfarrer
Bcrtelsmann zum Dank verpflichtet, daß er dies mit Nachdruck
gethan hat."

Woraus sich crgibt, daß Herr B. sich vergeblich bei der
Pvlizei bcschwert hat. Der ,Tremonia' entnehmen wir dazu
noch solgende Sätze: „War das etwa die einsachste und beste
Form der Protesterhebung, daß Herr B. mit dem Hut auf dcm
Kopfe, den Regenschirm unter dem Arm und übereinander-
geschlungenen Arnien mitten in die betend und singend daher-
ziehende Prozession sich stellte uud auf dem Platze verharrte, bis
der letzte Theilnehmer an der Prozession, so gut es auf dem
schmalen Wege ging, an ihm vorbei sich gedrückt hatte? Mochte
Herr B. sich noch so sehr berufeu sühlen, vermcintliche Rechte zu
wahren, es gab eine andere, weniger vcrletzende und wenigcr
dem Charakter seines Standes widerstrebende Art, das zu thun.
Dazu kommt aber noch, daß, wie man uns bestimmt versichert,
noch 1872 dieselbe Prozession, welche damals auch zur hl. Fir-
mung nach Unna izog (seitdem war letztere bekanntlich nicht
mehr gespendet wörden) denselben Weg ungehindert gemacht,
und daß bis zum Erlaß der Maigesetze auch die Prozession von
Waltrop nach Werl alljährlich ungestört diesen Weg gezogen
sein soll."

* Bochum, 6. Aug. Der,Köln. Vztg/ wird geschrieben:
Dem Vernehmen uach ist der HerrPfarrer Tellers in Watten-

scheid (gcborener Rheinländcr und s. Z. ReligionSlehrer an dcr
Ritterakademie zu Bedburg) von der königl. Staatsregierung
zum Domkapitular in Trier ernannt worden. — Wie wir von
zuverlässiger Seite ersahren, hat Herr Bischof Dr. Georg Kopp
im verflossenen Monat 40,000 Personen das h. Sakrament der
Firmung ertheilt. Die Zahl der Firmlinge in hiesiger Riesen-
pfarrei betrug 7600.

Herr Bischof Kopp wurde vorgcstcrn in feierlichem Aufzuge
nach Gelsenkirchen geleitet, um auch dort die h. Firmung zu
spenden.

* Hagett i. W«, 5. Aug. Eme dieser Tage hier von
einem tollen Hunde gebissene Frau ist am 3. d. auf Kosten der
Stadt, welche in der gestrigen Stadtverordnetensitzung bewilligt
wurdcn, nach Paris zu Pasteur gcreist, um sich impfcn zu lassen.
Wenns nnr hilst!

HandelsnachrichLen.

Ii. Httttttover, 6. Aug. Der in der abgelaufenen Woche
stattgehabte Ledermarki in Hannover konnte irgsnd welchcu
Einfluß auf die Gesammtlage des Geschäfts nicht ausüben, er
bot weitere und verstärkte Momente dafür, daß die Messen
allmählich vollständig verschwinden.

Die Zufuhren waren geringe, noch geringer aber war die
Zahl dcr wirklichen Einkäuser, welche vielleicht kleiner sein
mochte als die sonstigen Jnteressenten und Zuschauer, ,welche sich
im Packhof zusammensanden.

Der Verkehr entwickelte sich in Folge dessen auch schleppend,
namentlich in meist vorhandenen untergeordneteren Brandsohl-
ledern und Kipsen, ebenso in Sohlledern, für welche die früher
stark kaufenden Schuhmacher diesmalfast gänzlich sehlten. Eine
Ausnahme von allen anderen Artikeln machte Fahlleder,
welches schon Montag und Dinstag Vormittag in passenden
Posten von Großhändlern und Lieferanten ausgekauft wurde und
in besserer Waare mit M. 150—160, vereinzelt bis 165 Mark,
bezahlt wurde und ferner gesucht bleibt.

" Berlim, 7. August. Berg.-Man. 4"/g 4. Serie 000,00.0.
Bcrg.-Märk. 4"/g 5. Serie 103,20.1. Berg.-M ärk 4"/,

6. Serie 000.00.0. Berg.-Märk. 4«/« 7. Serie 103,25.0.
Bcrg.-Märk. 4»/, 8. Serie 103,25.0. Berg.-Märk. 4-/« 9. Serie
103,50.4. Berg.-Mä;k. Nordbahn 103,70,1. Rbcin. 4^

3. Em. 103,20.2. Rtz. 4°ft 1662/64/65 103,20.2. Rb.

1., 2., 3. Em. 103,20.2.

Wattk-Disk-ttto.

Lissabon 5^/, Paris z

Londorr 2ftz Petersburg S

Jtal. Bankpl. 4ft, Schweiz.Pl. 3

Madrid 4 Wien 4

4"/.

Amsterdam 2ft,
Belg. Plätze 2ft,
DeutschePlähe3
Kopenhagen 3—3'/,

Arrrchlpreise zu Neirtz am 7. Augrrst.

Weizen neuer 1. Qual. 1? 60
„ „ 2. „ 16 60
Landroggen 1. Q. neuer 14 50
„ 2. „ ,. 13 50

Wintergerste — —

Buchweizen 1. Qual. — —

„ 2. „

Hafer neuer 1. Oual. 15 —

Z _ _

Ra'ps l.'Qual. " 20 50

» 2. „ —
Aveel 19 —

Kartoffcln 4 —

Heu per 500 Kilo 36 —
Roggenstroh L 500 Kilo 25 —

45 —

Rüböl per 100 Kilo in Parthiecn von 100 Ctr.

Rüböl pcr 100 Kilo faßweise. 46 50

Preßluchen per 1000 Kilo.109 —

Kleien per 50 Kilo.4 60

Vermischte Nachrichterr.

* Berlitt, 7. Angust. Der Literarhistoriker Profcssor
Wilhelm Scherer ist gestern Abend gestorben.

* Karlsruhe, 5. Aug. Die Unterschlagung des General-
kassicrers W enig er, die sich über 200,000 M. beziffert, macht noch
immer viel von sich reden. So viel erscheiut gewiß, daß die
Unterschlagung schvn seit Jahren betrieben wurde, und daß die-
selbe bis in eine Zcit zurückdatirt, in der der jetzt 65jährige
Manu noch „zarte Vcrhällnisse" anknüpste! Es scheint, daß dieS
den Weiüger zum Verbrecher gemacht hat; in München soll
nämlich ein Frauenzimmer verhaslet worden sein, das zu Weniger
in einem intimen Vcrhältniß stand. Nachzutragen ist noch, daß,
wie hiesige Blätter meldcn, bei der Kassenrevision eine größere
Anzahl von Gvldrollen mit falschen Deklarationen sich vorfanden,
z. B. 100 Stück zu 20 M. statt zu 100 Pfcnnigen. Auch soll
ein Schuldschein über 220,000 M. auf eine Weniger nahestehendc
Pcrson sich vorgesunden haben. Weniger, Pfistcr, Straub —
ein nettcS Trifolium im Dienste uuserer Staatsvcrwaltung! —
schreibt inan dcr,Frankf. Ztg.'.

* Karisrtthe, 6. August. Der Stadtrechuer von Ettlin-
geu wurde vorgestern wegen Unterschlagung von 7000 Mark
verhaflet.

* Wien, 6. Aug. Wir lesen im wiener ,Vaterlande':
Wicdcr ein Attentat gegen einen Pfarrer. Aus St. Nikolai in
Sausal wird dem ,Grazer Bolksblatt' geschrieben: Am 28. Juli
d. I. wurde auf den Herrn Pfarrer von Fehring ein Attentat
verübt, Samstag Nachts gegen 11 Uhr aus den Pfarrer von
St. Nikolai in Sausal. Tags vorher (30. Juli) noch hatte die
Hauptverhandlung wegen Ehrenbeleidigung, begangen an letzt-
genanntem Herrn Psarrer durch öffentlich angebrachtc Schmäh-
zettel mit sehr ehrenrühigem Jnhalte, stattgehabt. Obgleich der
Kläger seine Klage mit vielen Schuldindicicn gegen den Geklagtcn
bekräftigen konnte, hat der Klägcr (Psarrcr) in edler Weise seincn
Strasanlrag noch vor Schluß des Beweisverfahrens zurück-
gezogen, weil die Geklagten eben seine eigeuen Pfarrkinder waren.
Tags darauf, Nachts 11 Uhr, wurde ein großer, scharfkantiger
Stein unter furchtbarem Geklirre zweier in tausend Stücke zer-
trümmcrtcn Fensterscheiben in seine Amtswohnung geworfen. Der
Wurf war so gul gezielt, daß dcr Stein, wäre er nicht, wie es
die hinterlassencn Spuren deutlich anzeigen, an der Mittelleiste
des Fenflers abgcprallt, den Psarrer am Kopfe hätte treffen
müsseu, wcnn er noch, wie drei bis vier Minuteu unmittelbar
vorher, an seinem Arbeitstische gesesseu wäre, und der zum An-
denken aufbehaltene Stein ist groß und schwer genug, daß er
im Fallc dcs TreffenS den Psarrer augenblicklich hätte tödten
Müssen. Der Attentäter, bisher noch unbekannt, ist wahrschein-
lich nicht aus cincr anderen Pfarre.

Du?" die geängstigte Mutter/ Richard sah mich mit einem ve

nichtendeil Blicke an nnd schrie:

„Er . . . . (er war uämlich ich) er hat mir keine Bonbons
mitgebracht!"

Doch kaum war ihm daS Wort entfahren, möcht' cs die
Muttcr in ihrem Busen gern bewahren. Die stopfte dem Kleinen
den Mund init Küssen, das Stubenmädchen kicherte, der Vater
lächelte und seine Augcn sagten deutlich: „Ein reizendes Kind",
während ich die Absicht merkte und verstimmt wurde. . . .

Der Braten sollte aufgetragen werdeu und wie alle großen
Ereignisse warf auch dicses seine Schatten voraus. Richard
wäre nämlich beinahe vom Sessel gefallen, und nur meincr
Encrgie war cs zn danken, daß die Katastrophe nicht eiutrat.
Obwvhl ich Nichard so festhielt, daß er laut wimmerte, so wäre
es vicllcicht doch besser gewesen, wenn ich ihn fallen gelassen
hätte. Denn die Katastrophe war leider nur vertagt, nicht be-
seitigt. Kaum war nämlich der herrliche Hahn in Begleitung
einer süßen Schüssel Kompote und einer saureu Schüssel Salat
auf dsr Tafel erschienen, so versuchte Richard nochmals sein Ex-
peiimeu!, ec rmschte auf seincm Sessel und auf einem anderen
Gegcnstäiide hin und her und rief endlich: „Jch falle!"

„Falle nur zu," dachte ich mir, und in der That: — er
fiel, klammerte sich im Sturze an das Tischtuch, riß dasselbe mit
sich und schwamm im nüchsten Augenblicke in cinem Meere von
Kompote mid Salat. Das war mir zu viel! J4 h°b den oon
süßer und saurer Nässe triefenden Buben empor und ggh ihm
ein „Kopfstück". Doch wis eine Löwin, der man ihre Ju-.igen
odcr ihre Alten rauben will, sprang die Mutter herzu, leckte dem
Kinde das Kompote vom Gesichte und schrie: „Sie Barbar!
Sie quälen seit Stunden mein Kind, werfen es vom Sessel uno
schlagen es dann noch! O, Du süßes Kind/' rief sie, während
sic die Kompotinseln im Gesichte ihres Meerschweinchens küßte-

Jch wendete mich an meinen Freund: „Du siehst, "eber
Freund", sagte ich, das Uevrige sagte aber er. Wir wären von
nun ab weder Freunde noch Bckannte, das Tischtuch zwqchen
uns habe sein Sohn zerrissen, cr, er wolle mich nimuiermehr
sehen und womöglich auch Nichts von mir hören. Jch ein
Barbar, ich hätte seinen Richard geschlagen, einen so lieben Jun-
gen, ein so reizendes Knid! . . .

Wic ich aus dem Hause kam, weiß ich nicht mehr. Jch
hörte Richard schreien und den Kanarienvogsl heulen. So viel
Geistesgegcnwart hatte ich allerdings noch, daß ich dem hämisch
kichernden Stubenmädchen kein Trinkgeld in die Hand drückie
und spornstrcichs heim eilte. Jch machte Bilanz: meine Glatze
war entweiht, meine Uhr ruinirt, mein Zwicker unbrauchbar,
meine Uhrkette zerriffen, meine Weste beschmutzt, meine Hose
lädirt . . - Fürwahr, ein reizendes Kindij

Jch habe nur noch cinen Wunsch: möge mir der liebe
Himmel — wenn er mich jchon strasen will, — lieber zwölf
Fraucn schenken, als ein einziges „reizendes Kind"!

hielt mich zurück. Auch die Zimmerthür ging auf unü meiii

Freund und seine Frau, „ach, die Gattin ist'z, die theure," kameu
mir cntgegen. Jch wurdc aus meinem Winterrocke gcschält uud
ins Zimmer geschleppt, wo mir der Kanarienvogcl eine förmliche
Kanonade enlgegensang. Mein erster Wunsch war, daß das gelbe
Gesangsfieber aus dem Zimmer entfernt werde.

„Abcr er singt so hübsch " meinte die nachsichtige Hausfrau.

„Jch bedaure unendlich," entgegnete ich mit ritterlicher
Höflichkeit, „aber ich muß die Frage stellen: entweder er oder
ich! Mein Arzt hat mir die gelben Farbentöne verboten."/

Man entfernte den Vogel, doch kaum war derselbe meinem
Gesichts- und Gehvrkreise entschwunden, so hörte ich iinter mir
— ich saß auf dem Sofa — leises Wimmern. Jch sprang
entsctzt auf und sah, daß ein kleines Etwas untsr dem Sopha
hervorkroch. Dieses Etwas war — Richard, der Sohn des
Hauses.

Richard weinte bitterlich. Er fürchtete sich vor mir, weil ich
eine Glatze besitze. „Der Mann hat seine Haare zu Hause ver-
gessen!" rief er immer nnd immer wieder, und je mehr ich ihn
bat, nicht zu schreien, weil ich das nicht leiden könnte, desto
lauter schrie er. Seine Mama, welche Ansangs lächelte, ver-
suchtc jetzt, den kleinen Knaben zu besänstigen. Sie drückte ihn
an sich und — o Wunder aller Wunder! — er schwieg.

„Wie er gehorcht!" ries sie glückselig. „O, Richard ist ein
reizeudes Kind!"

llnd als ob sie mit diesem Kunststücke noch nicht germg be-
wiesen hätte, sagte sie crnst und feierlich, so etwa wie Miß Kora
im Löwenkäfige spricht: „Und jetzt, Richard, gehe zu dem Herrn
und reiche ihm die Hand."

Die großen Augen angstvoll auf mich gerichtet, näherte sich
der dreijährige Knabe. „Lasset den Kleinen nicht zu mir kommen,"
wollte ich rufen; aber die Höflichkeit schnürte mir die Kehle zu.
Da stand er nim vor mir, der kleine Richard. Mit jeder Sekunde
wurde er muthiger. Er saß bald auf meinen Knieen, hatte meinen
Zwicker betrachtet, nieinc Glatze bctastet, „ob die Haare nicht
darunter versteckt sind"; meine neue weiße Weste aufgeknöpft und
einen Abdruck seiner kleinen Finger zurückgelassen, meine Kravatte
aufgeknüpft und mir auf die Füße getreten, wobci ich noch be-
merken muß, daß mir nichts unangenehmer ist, als wenn mir
Jemand auf die Füße tritt. Doch das war nur das Werk
einiger Sekunden. Es kam noch beffer. Richard wurde es müde,
auf meinen Füßen zu stehen; er kletterte wieder auf meine Kniee
und — o du hoffnungsvoller Junge! — zog meinc Taschenuhr,
löste dieselbe von der Kette und ließ dann die Uhr sallen. Jhm
geschah Nichts dabsi, aber der Uhr wurde ein Zeiger gebrochen
und das Glas zertrümmcrt. Während ich nun die Ueberreste
meiner Uhr zusammensuchte, hatte Richard mein Taschentuch er-
beutet u,ld mit bewunderungswürdigem Jnstinkte sofort entdeckt,
wozu dasselbe benützt zu werden Pslegt. Er machte von dem-
selbcn Gebrauch wie ein Riese und gab es mir dann wohlgemuth
zurück.

„Ein reizendes Kind," sagte die Mutter, „es ist so gewissen-
haft und so reinlichkeitsliebend." * . *

Der kleine Richarü war eben damit vcjchästigt, meine Taschen

zu durchstöbern uud hatte bereils ein Taschenmesser, eine Nagel-
seile, ein Portemonnaie, cine kleine Bürste, eiuen Spiegcl und
sineii Brief hervorgekramt, als das Stubenmädchen mit der er-
sreulichen Botschaft in das Zimmer trat, daß die Suppe servirt
sei. Mir war es, als ob mir ein Stein oder, was noch schwerer
;u tragen wäre, ein Kind vom Herzen siele; ich raffte mcine
sieben Sachen zusammen, erhob mich, reichte der Frau des Hauses
den Arm und führte sie in das nächste Zimmer, wo der Mittags-
tisch gedeckt stand. Jn ciner Nische erblickte ich den Anrichtetisch,
Alles war weiß, rein und appetitlich. Auch die Tische und Kellner
lm Gasthause sind weiß und rein — aber appetitlich sind sie
nur in den seltensten Fällen. . . . Jch weiß nicht warum, aber
mir kam jetzt dieses kleine Heim sehc anheimelnd vor mid ich
konnte mir den wörtlichen Ausdruck dieses Gefühls nicht versagen.
Die Hausfrau lächelte, der Hausherr lächelte und der Haus-
knabe brüllte. Dieser hatte sich nämlich an meine Rockschößc ge-
hängt und ich war so unglücklich gewesen, ihm bcinahe auf den
Fuß zu treten. Die Eltern eilten bestürzt herbei und Richard
heulte, daß „der da (das war nämlich ich) ein abscheulichcr
Mensch sei, daß man den da (das war wieder ich) fortschicken
solle". . . . Meine gute Laune war in Folge dieses Zwischen-
trittes dahin. Der kleine Richard war bald beruhigt, mein Ge-
müth jedoch konnte nicht zur Ruhe kommen. Die liebenswürdige
Hausfrau hatte mich nämlich — „damit ich Richard wieder ver-
söhnen möge" — an die Seite dicses Wunderkindes gesetzt und
ich darf dieses Diner zudenschrccklichstenDinersmeincs Lebenszählen.
Bei einem Todtenmahlc mnß man vergnügter sein, als ich es
gewesen. Dcr Wahrheit die Ehre! Die Paradeissuvpe war ni cht
schlecht, aber der Junge dazu war es. Richard hatte nämlich
die Passion, seincn Löffel in meine Suppe zu tauchen (dem
Knabcn scheinen, in Paranthese bcmerkt, mit dem berühmten
Tropfen sozialistischcn Oeles die Haare gesalbt worden zu sein!)
und meine weiße Wcste mit rotheu Suppentropfen zu schmücken.
Er aß aber trotzdem die Hälfte meiner Suppe und, um dicse
Ungerechtigkeit wieder gutzumacheu, warf er das Stück Rind-
fleisch, welches ihm seine Muttcr später gab, aus meinen Teller.
Jch wurde aufgeregt wie ein Löwe, deni man ein Stück Fleisch
vor die Nase wirft. Doch die Eltern lächelten selig.

„Ein gutes Kind!" lispelte sreudestrahlend die Mutter. „ES
theilt Allcs mit den Armen, sogar das tägliche Brod."

„Ja selbst das Fleisch," war ich maliziös ein.

„Ein reizendes Kind!" flüsterte die Mutter, und sah dank-
bar zum Plafond empor.

„Jawohl, ein reizendes Kind," wiederholte ich ironisch;
aber die Eltern merkten meine Jconie nicht, sie sahen mich
glückselig an und aßen weiter.

Es trat eine Pause ein und ich wollte dieselbe meinem
Teller widmen, als Richard an meiner Seite plötzlich so freudig
aufschrie, als ob er die Eselsbrücke entdcckt hätte, auf welcher er
mich heimschicken könnte.

„Was jehlt Dir?" fragte der bcsorgte Vater, „was willst
 
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