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Walden, Nell [Hrsg.]; Walden, Herwarth [Ill.]
Der Sturm: ein Erinnerungsbuch an Herwarth Walden und die Künstler aus dem Sturmkreis — Baden-Baden, 1954

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https://doi.org/10.11588/diglit.28011#0125
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Herwarth Walden

NACHRUF UMBERTO BOCCIONI

DER STURM, VII. Jahrgang, VI. Heft / September 1916

Nun hat auch Italien den größten künstlerischen Verlust erlitten: Umberto Boccioni
ist am 18. August durch Sturz vom Pferde gestorben. Er ist vierunddreißig Jahre alt
geworden.

Der Name Boccioni bedeutet für Italien und damit für Europa die Befreiung von der
Auffassung der Kunst als Kunstgeschichte. Die Durchschnittsmaler der ganzen Erde
lebten und leben seit Jahrhunderten von den Meistern der Renaissance, alle die
unzähligen Schüler und Schülerschüler wurden von der Kunstgeschichte zu Meistern
ernannt, ihre Kopien der wenigen wirklichen Meister in sämtlichen Museen und staat-
lichen Instituten dicht nebeneinander und übereinander aufgehängt. Die Rahmen ver-
goldeten verbräunte Bilder und die Namen ihrer Maler wurden in das goldene Buch
der Kunstgeschichte sorgfältig notiert. Rahmen und Bücher sind geduldig. Der Satz
des Buchs der Kunstgeschichte bleibt ewig stehen und das Gold der Rahmen wird
nachgeblättert. So wirken die Bilder, so werden die Bilder immer verbräunter, bis der
gesunde Mensch über die Farbe wischt, die Schminke ist. Boccioni fuhr mit seiner
starken Hand durch die Galerien Italiens, der Staub von Jahrhunderten fiel hinunter,
die sogenannte alte Kunst war tot und damit das Geschäft Italiens. Museumsdirektoren
und Hotelwirte protestierten. Die Gebildeten der ganzen Erde waren entrüstet. Weil
einer gerüstet in den Kampf zog. Die Gebildeten taten, was Entrüstete tun: Sie schrien.
Der Sieger ist stets unbeliebt. Die Gebildeten fühlten sich der Schätze ihres Gedächt-
nisses beraubt. Sie hatten den ganzen Satz des dicken Buches auswendig gelernt. Die
wohlgezählten Namen sollten nicht einen Centesimo wert sein. Wo doch jede namenlose
Madonna namenlose Heere von Deutschen und Engländern nach Italien zog. Alle
Börsen waren ihnen geöffnet. Und da zu jedem Geschäft ein guter Name gehört, wurde
Italien zur Kunstbörse der Welt ernannt. Mit der Kunst ließen sich Geschäfte machen,
aber die Kunst macht keine Geschäfte. Boccioni war ein Romane und wurde ein
Künstler, der also das Romantische hassen mußte. Er fühlte und wußte, daß Kunst
Ordnung ist. Ordnung, die Romantiker Militarismus nennen. Darum erklärte Boccioni
der Erde den Krieg: „Wir wollen den Krieg preisen — diese einzige Hygiene der
Welt — den Militarismus, den Patriotismus.“ Dieser Satz Boccionis ist so oft falsch
verstanden worden, als man Bilder zu verstehen sucht. Nicht nur Bilder, auch Gedanken
werden in das beliebte Reich der Tatsachen hinab gezogen. Alles Unglück dieser Erde
stammt von der Verwirklichung des Geistigen. Davon, daß Gleichnisse in bar umgesetzt
werden. Während doch alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist. Kunst ist Gleichnis
und Gleichnis ist Tat. Was wir tun, ist geschehen und was wir nicht tun, geschieht. Es
gibt keine andere Anschauung für den Künstler und für die Kunst. Diese Anschauung
ist keine Richtung, es ist das Schauen. Boccioni war für den Krieg als geistiges
Phänomen. Er war Künstler und wollte, wie jeder Künstler, das sogenannte Leben aus
der Kunst drängen. AIs er im Übermut seines Kunstgefühls Kunst in das sogenannte
Leben treiben wollte, stürzte er. Kunst ist unmenschlich, sie tötet, wer sie vermensch-

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