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Walden, Nell [Hrsg.]; Walden, Herwarth [Ill.]
Der Sturm: ein Erinnerungsbuch an Herwarth Walden und die Künstler aus dem Sturmkreis — Baden-Baden, 1954

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https://doi.org/10.11588/diglit.28011#0134
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Erde waren von einer tiefen umwälzenden Wandlung ergriffen. Die ungeheure Welt-
wende, die, lang vorbereitet, damals in das entsdieidende Stadium ihrer ersten Ver-
wirklichung trat, verkündete in großartigen Symbolen, nämlich in Kunstwerken, das
Wesen der neuen Weltskht. So erschien am Beginn dieser Weltwende eine Kunstwende,
und zwar von solcher Bedeutung und durchdringenden Kraft, wie sie seit dem Untergang
der Antike und dem Aufstieg des Christentums nicht erschienen ist.

Die Erinnerung an einzelne Künstler und ihre Werke als Symptome der Weltwende
vermag den Sinn dieser Kunstwende bewußt zu machen. So ist etwa an den Bauten
von Wright in Amerika, von Oud in Holland, von Loos in österreich bis zu den
Bauten von Le Corbusier in Frankreich deutlich, daß die abendländische Kunst iiberhöht
wird von einer planetaren Kunst, in der die Völker der Erde ihrer Gemeinsamkeit eine
neue gemeinsame baukünstlerische Gestalt geben. Die Herrschaft des Abendlandes
versinkt in der überragenden Herrschaft des Planeten Erde. In der Einheit solchen Stils
kündet sich die künftige, wenn auch noch ferne Gemeinschaft der Völker an. Die
Grenzen der Völker öffnen sich zu einem planetaren Zueinander. Es öffnen sich aber
auch die Grenzen zwischen sichtbarer und unsichtbarer Natur, und zwar jener unsicht-
baren Natur, die mit keinem optischen Instrument erreichbar ist. Auch diese Erweiterung
des menschlichen Bewußtseins verkünden auf vielfältige Weise die Werke der Kunst-
wende. So bietet sich etwa in der absoluten Malerei ein Blick in das Leben der Farb-
lichtwelt, dem besonderen Reich, aus dem die Farbigkeit der Naturerscheinungen
gewirkt wird. So enthüllt Franz Marc in Farbformentsprechungen die Urbilderwelt
der Schöpfung. Aber auch die magisdien Sphären gespenstiger Zwischenwelten sind
aufgetan. Den Blick in die himmlische und in die höllische Welt, der seit Jahrhunderten
den Künstlern meist verhüllt war, verkünden die Gesichte der Weltwende, als ein
Anruf an die Menschen, sich zu entscheiden zwischen den geistigen Welten. Die Stunde
der Weltwende ist zugleich die Stunde des Chaos wie des Kosmos.

Die Verwandlung der Welt beginnt zwangsläufig mit der Revolution als einer Tat des
Geistes. Revolution ist ein Zurück zu den Uranfängen, zu den Prinzipien des
schöpferischen Gestaltens. So fanden die Künstler zurück zu der Voraussetzung der
Kunst, zu dem „inneren Klang“, wie Kandinsky die Voraussetzung nennt, zu dem
Aufbrechen der Schöpferkraft im Menschen, durch die der Mensch die Werke der Kunst
neben die Werke der Natur zu stellen vermag. Und um das Kunstwerk gestalten zu
können, fand der Künstler zugleich zurück zu den Elementen der Farbe und Form, mit
denen er seinen Gesichtern die Gestalt geben konnte. So sind die Kunstwerke unserer
Zeit ungeschmälerte Verkündigungen der geistigen Wirklichkeit geworden. Diese
Eröffnung der geistigen Wirklichkeit in der natürlichen Wirklichkeit war das Signal der
Weltwende, hinweisend auf die künftige, noch ferne, von mensdhlicher Ichsucht nicht
gehinderte Herrschaft des Schöpfergeistes über die Materie, auf die Herrschaft der
Liebe, in der die Materie verklärt wird.

Nur wenige Menschen erkannten und bejahten vor einem Menschenalter die Signale
und Symptome der ungeheuren Verwandlung, die heute die ganze Menschheit erschüttert.
Herwarth Walden war unter diesen ersten wenigen. Und mehr als das: er war in
Deutschland vor einem Menschenalter der erste und einzige Mann, der bedingungslos
seine Lebensarbeit einsetzte für die Anerkennung der Künstler der Kunstwende.

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