Eines Tages fand ich bei ihr die erste Nummer einer Kunstzeitschrift, betitelt: „DER
STURM“. Ich interessierte mich lebhaft für deren Inhalt und meine Freundin sagte mir:
„Das ist eine neue Zeitschrifl für moderne Kunst, die mein Bruder herausgibt!“ Von
jetzt an nahm ich alle neuerscheinenden Nummern dieser Zeitschrift mit nach Hause
und studierte sie gründlich und mit großem Interesse. Das war im Frühling des
Jahres 1910. Ich war damals 22 Jahre alt.
Im Sommer 1911 rief meine Freundin Gertrud einmal bei uns an: Heute käme ihr
Bruder Herwarth Walden, um sie auf einige Stunden zu besuchen. Er stand im Begriffe,
mit einem Freund eine Nordlandreise zu unternehmen, und wollte sie bei dieser
Gelegenheit rasch begrüßen. Sie lud mich zum Tee ein: „Herwarth wird sicher spielen“,
fügte sie hinzu, „und ich möchte gerne, daß Du ihn und seine Musik kennenlernst!“
So traf ich Herwarth Walden zum erstenmal bei seiner Schwester in Sdiweden. Ich war
von seiner Erscheinung betroffen. Eine blonde Musikermähne, weißes Gesicht mit
blauen, kurzsichtigen, bebrillten Augen, sehr gute Musikerhände, sdimäditig von
Gestalt, wohl an sich häßlich, strömte von ihm eine ungeheure Vitalität und Intensität
aus. Er spielte eigene Kompositionen. Der Eindruck auf mich war hinreißend und stark.
Ich war sehr beeindruckt von ihm und seiner Musik. Es waren einige schöne Stunden
im Heime seiner Schwester. Als Herwarth Walden hörte, wie interessiert idi von seiner
neuen Kunstzeitschrift war, versprach er, mir diese nun regelmäßig direkt zuzustellen.
Später, viel später hat mir seine Schwester Gertrud erzählt, daß er nach meinem
damaligen Weggehen zu ihr gesagt hätte: „Dieses Fräulein Nell Roslund wird meine
Frau werden!“ Die Schwester hätte ihn ausgelacht und gesagt: „Wie stellst du dir das
vor? Erstens ist sie viel jünger als du, zweitens aus einer sehr guten schwedisdien
protestantischen Familie, und drittens bereits verlobt mit einem Schweden .. .“
Die zweite sdhicksalshafte Begegnung war im Winter desselben Jahres. Bemerken muß
ich noch, daß zwischen uns keinerlei Briefwechsel bestanden hat. Herwarth Walden ließ
mir nur regelmäßig vom Verlag aus die Zeitschrift DER STURM zustellen.
Persönliches Interesse oder Liebe hegte ich damals gar nicht für ihn. Ich empfand ihn
als eine starke Persönlichkeit; ein Pionier, der sich zum Ziele gesetzt hatte, der neuen,
verfemten Kunst zum Durchbruch zu verhelfen. Mein Temperament begeisterte sich
an diesem Kampf.
Eine Winterreise nach Berlin (im November 1911) — idi wohnte bei einer deutsch-
schwedischen Familie, in weldter ich den beiden kleinen Kindern Unterricht in
Schwedisch erteilte — brachte mich wieder rein zufällig mit Herwarth Walden zu-
sammen. Und zwar auf der Straße, auf dem Kurfürstendamm. Ich ging mit den beiden
kleinen Mädchen nach dem Tiergarten, und plötzlich stand vor mir Herwarth Walden
m wehendem Mantel, Schlapphut, die Mappe unter den Arm gedrückt und die unver-
meidliche Zigarette im Mundwinkel. Wenn man sich vorstellt, daß das in einer großen
Millionenstadt gesdiah, in der man jahrelang leben konnte, ohne sich je wieder zu sehen.
Es war Schicksal!
Nun kam ich in Elerwarth Waldens Kreis, seinen engsten Kreis hinein. Ich wurde seine
Vertraute. Er beriet alles mit mir. Seine Absicht, im Rahmen der STURM-Zeitschrift
Kunstausstellungen zu veranstalten, besprach er schon anfangs 1912 mit mir. Es handelte
sidh darum, Künstlern, bildenden Künstlern und Gruppen, wic z. B. „Der Blaue Reiter“
10
STURM“. Ich interessierte mich lebhaft für deren Inhalt und meine Freundin sagte mir:
„Das ist eine neue Zeitschrifl für moderne Kunst, die mein Bruder herausgibt!“ Von
jetzt an nahm ich alle neuerscheinenden Nummern dieser Zeitschrift mit nach Hause
und studierte sie gründlich und mit großem Interesse. Das war im Frühling des
Jahres 1910. Ich war damals 22 Jahre alt.
Im Sommer 1911 rief meine Freundin Gertrud einmal bei uns an: Heute käme ihr
Bruder Herwarth Walden, um sie auf einige Stunden zu besuchen. Er stand im Begriffe,
mit einem Freund eine Nordlandreise zu unternehmen, und wollte sie bei dieser
Gelegenheit rasch begrüßen. Sie lud mich zum Tee ein: „Herwarth wird sicher spielen“,
fügte sie hinzu, „und ich möchte gerne, daß Du ihn und seine Musik kennenlernst!“
So traf ich Herwarth Walden zum erstenmal bei seiner Schwester in Sdiweden. Ich war
von seiner Erscheinung betroffen. Eine blonde Musikermähne, weißes Gesicht mit
blauen, kurzsichtigen, bebrillten Augen, sehr gute Musikerhände, sdimäditig von
Gestalt, wohl an sich häßlich, strömte von ihm eine ungeheure Vitalität und Intensität
aus. Er spielte eigene Kompositionen. Der Eindruck auf mich war hinreißend und stark.
Ich war sehr beeindruckt von ihm und seiner Musik. Es waren einige schöne Stunden
im Heime seiner Schwester. Als Herwarth Walden hörte, wie interessiert idi von seiner
neuen Kunstzeitschrift war, versprach er, mir diese nun regelmäßig direkt zuzustellen.
Später, viel später hat mir seine Schwester Gertrud erzählt, daß er nach meinem
damaligen Weggehen zu ihr gesagt hätte: „Dieses Fräulein Nell Roslund wird meine
Frau werden!“ Die Schwester hätte ihn ausgelacht und gesagt: „Wie stellst du dir das
vor? Erstens ist sie viel jünger als du, zweitens aus einer sehr guten schwedisdien
protestantischen Familie, und drittens bereits verlobt mit einem Schweden .. .“
Die zweite sdhicksalshafte Begegnung war im Winter desselben Jahres. Bemerken muß
ich noch, daß zwischen uns keinerlei Briefwechsel bestanden hat. Herwarth Walden ließ
mir nur regelmäßig vom Verlag aus die Zeitschrift DER STURM zustellen.
Persönliches Interesse oder Liebe hegte ich damals gar nicht für ihn. Ich empfand ihn
als eine starke Persönlichkeit; ein Pionier, der sich zum Ziele gesetzt hatte, der neuen,
verfemten Kunst zum Durchbruch zu verhelfen. Mein Temperament begeisterte sich
an diesem Kampf.
Eine Winterreise nach Berlin (im November 1911) — idi wohnte bei einer deutsch-
schwedischen Familie, in weldter ich den beiden kleinen Kindern Unterricht in
Schwedisch erteilte — brachte mich wieder rein zufällig mit Herwarth Walden zu-
sammen. Und zwar auf der Straße, auf dem Kurfürstendamm. Ich ging mit den beiden
kleinen Mädchen nach dem Tiergarten, und plötzlich stand vor mir Herwarth Walden
m wehendem Mantel, Schlapphut, die Mappe unter den Arm gedrückt und die unver-
meidliche Zigarette im Mundwinkel. Wenn man sich vorstellt, daß das in einer großen
Millionenstadt gesdiah, in der man jahrelang leben konnte, ohne sich je wieder zu sehen.
Es war Schicksal!
Nun kam ich in Elerwarth Waldens Kreis, seinen engsten Kreis hinein. Ich wurde seine
Vertraute. Er beriet alles mit mir. Seine Absicht, im Rahmen der STURM-Zeitschrift
Kunstausstellungen zu veranstalten, besprach er schon anfangs 1912 mit mir. Es handelte
sidh darum, Künstlern, bildenden Künstlern und Gruppen, wic z. B. „Der Blaue Reiter“
10