Vorbemerkung
7
flämischer, während des sechzehnten Jahrhunderts noch von deut-
scher, italienischer und niederländischer Kunst abhängig gewesen,
und dann doch sehr groß geworden. Jene Zeiten waren interna-
tionaler, als wir uns meistens klarmachen. Was an Werken Clouets,
beispielsweise, so ausschließlich französisch ist, daß es sich grund-
sätzlich von ähnlichen Werken Hans Holbeins einerseits und Bron-
zinos andererseits unterscheidet, dürfte mit Worten sehr schwer zu
sagen sein. In bestimmten Zeiten waren bestimmte Auffassungen und
bestimmte Formen der Malerei internationales Ideal, fast so, wie die
Sprache, in der die Gelehrsamkeit der verschiedenen Völker unter-
einander verkehrte. Nur scharfe Ohren hörten die Unterschiede des
Dialektes. Nationaler Charakter hat sich während des Mittelalters
im ganzen geistigen Leben an manchen Stellen sehr spät aus-
gebildet. In England entstand erst um die Mitte des vierzehnten Jahr-
hunderts, durch Verschmelzung der angelsächsisch-englisch volks-
mäßigen mit der französisch-normannisch höfischen Dichtung eine
Nationalliteratur und eine über den verschiedensten Mundarten
stehende Schriftsprache. Der im Jahre 1408 gestorbene Dichter John
Gower hatte noch abwechselnd englisch und französisch geschrieben.
Die geistige Kultur Englands als Ganzes war noch jung, als Hans
Holbein nach London kam. Kein Wunder, daß die späteste Form bil-
dender Kunst, dieMalerei, sich nur sehr zaghaft auf eigene Füße stellte.
Alle diese Verhältnisse muß man in Anschlag bringen, wenn man
englische Malerei würdigen will. Sie ist, als Ganzes genommen,
nicht vergleichbar an Wert und europäischer Bedeutung der hol-
ländischen oder auch nur der spanischen der goldenen Zeit; und
hinter den Großtaten englischer Baukunst tritt sie ins zweite Glied
zurück. Aber so unselbständig wie in ihren Anfängen ist sie nicht
dauernd geblieben und man darf sie nicht als einen Nebenschößling
oder gar als eine Schlingpflanze am Baume der europäischen Kunst
abtun. Sie führte zeitweise ihr eigenes und ausgesprochen natio-
nales künstlerisches Leben. Und da diese Lebendigkeit stark genug
war, um fruchtbare Wirkungen auch auf andere Kunstvölker aus-
zustrahlen, vom Kontinent nicht nur zu empfangen, sondern dem
Kontinent auch zu geben, und da dieser Kontinent einmal Dela-
croix hieß und ein andermal Menzel, muß die englische Malerei von
Zeit zu Zeit immer wieder einmal von neuem hineinbezogen werden
in den Kreis gesamteuropäischer Kunstbetrachtung.
Bremen, im August 1927.
Emil Waldmann.
7
flämischer, während des sechzehnten Jahrhunderts noch von deut-
scher, italienischer und niederländischer Kunst abhängig gewesen,
und dann doch sehr groß geworden. Jene Zeiten waren interna-
tionaler, als wir uns meistens klarmachen. Was an Werken Clouets,
beispielsweise, so ausschließlich französisch ist, daß es sich grund-
sätzlich von ähnlichen Werken Hans Holbeins einerseits und Bron-
zinos andererseits unterscheidet, dürfte mit Worten sehr schwer zu
sagen sein. In bestimmten Zeiten waren bestimmte Auffassungen und
bestimmte Formen der Malerei internationales Ideal, fast so, wie die
Sprache, in der die Gelehrsamkeit der verschiedenen Völker unter-
einander verkehrte. Nur scharfe Ohren hörten die Unterschiede des
Dialektes. Nationaler Charakter hat sich während des Mittelalters
im ganzen geistigen Leben an manchen Stellen sehr spät aus-
gebildet. In England entstand erst um die Mitte des vierzehnten Jahr-
hunderts, durch Verschmelzung der angelsächsisch-englisch volks-
mäßigen mit der französisch-normannisch höfischen Dichtung eine
Nationalliteratur und eine über den verschiedensten Mundarten
stehende Schriftsprache. Der im Jahre 1408 gestorbene Dichter John
Gower hatte noch abwechselnd englisch und französisch geschrieben.
Die geistige Kultur Englands als Ganzes war noch jung, als Hans
Holbein nach London kam. Kein Wunder, daß die späteste Form bil-
dender Kunst, dieMalerei, sich nur sehr zaghaft auf eigene Füße stellte.
Alle diese Verhältnisse muß man in Anschlag bringen, wenn man
englische Malerei würdigen will. Sie ist, als Ganzes genommen,
nicht vergleichbar an Wert und europäischer Bedeutung der hol-
ländischen oder auch nur der spanischen der goldenen Zeit; und
hinter den Großtaten englischer Baukunst tritt sie ins zweite Glied
zurück. Aber so unselbständig wie in ihren Anfängen ist sie nicht
dauernd geblieben und man darf sie nicht als einen Nebenschößling
oder gar als eine Schlingpflanze am Baume der europäischen Kunst
abtun. Sie führte zeitweise ihr eigenes und ausgesprochen natio-
nales künstlerisches Leben. Und da diese Lebendigkeit stark genug
war, um fruchtbare Wirkungen auch auf andere Kunstvölker aus-
zustrahlen, vom Kontinent nicht nur zu empfangen, sondern dem
Kontinent auch zu geben, und da dieser Kontinent einmal Dela-
croix hieß und ein andermal Menzel, muß die englische Malerei von
Zeit zu Zeit immer wieder einmal von neuem hineinbezogen werden
in den Kreis gesamteuropäischer Kunstbetrachtung.
Bremen, im August 1927.
Emil Waldmann.