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Vierter Abschnitt

auf dem Gebiete des geistreichen Kolorismus er ist, gibt er sich in
seinen vor der Natur entstandenen Landschaften oft als ein ver-
ständnisvoller Waffenbruder Constables und grüßt ihn von ferne.
Aber auch dem anderen, neuen Genie Englands bringt er gelegent-
lich seine Opfer.
William Turner ist, im Guten wie im Bösen, im Umkreis der
englischen Kunst die phänomenalste Erscheinung. Anempfinder und
Nachahmer von einer Voraussetzungslosigkeit und Verantwortungs-
losigkeit, über die selbst Reynolds, der doch auch überall gelernt
hatte, erschrocken gewesen wäre; und dabei in der Nachahmung
und im Eklektizismus fast genial. Selbständig in einem Grade, der
an Eigensinn grenzt, und jede Tradition verleugnend, und dabei
in eine künstlerische Zukunft weisend, die auch wieder etwas bei-
nahe Geniales hat. Er malt Bilder, die man mit Claude Lorrain ver-
wechseln kann und nach seiner testamentarischen Bestimmung wohl
auch verwechseln sollte, wenn er verlangte, sein Carthago-Gemälde
sollte neben Claudes „Einschiffung der Königin von Saba“ gehängt
werden. Und dann malt er wieder Bilder, die aus nichts bestehen,
als aus Atmosphäre, aus Nebeln und Sonnenlicht, aus farbiger Luft
und Reflexen und spiegelnden Wolken, Bilder, in denen auch die
kühnsten Träume des spätesten, aufgelöstestem Impressionismus
schon vorweggenommen sind, Landschaften und Wasserschaften
ohne auch nur die leiseste Andeutung von Land und Wasser, Bilder,
neben denen Constables Wolkenphantasien erdhaft schwer er-
scheinen und die er selber „Goethes Farbenlehre“ betitelte und die
nichts vorstellen als Irisationen. Er ist manchmal ein reiner, nur
auf das Sichtbare bedachter Realist und manchmal ein hemmungs-
loser Romantiker, und oft ist er beides in ein und demselben Atem-
zuge. Keiner wußte so viel über die Physiologie der Farben und
über den Charakter des Materials, mit dem man malt, keiner hatte
eine so reine und so reiche Palette, wie er; und doch ist manchmal
sein Vorgehen wie das eines Dilettanten, der vor lauter Experi-
menten nicht zum Bilde gelangt. In einem mit Ethik nahe ver-
wandtem Sinne um die Beseelung der Natur pantheistisch gläubig
bemüht, schuf er nebenher Hunderte von derart obszönen Kompo-
sitionen, daß Ruskin sie vernichtete. Vielleicht war er zuletzt
wahnsinnig. Seine Mutter starb im Irrenhause, und auf seinem
Selbstbildnisse sieht er böse und unheimlich aus. Aber zum Durch-
bruch gekommen ist etwas Irrsinniges, wenn es in ihm gelauert
haben sollte, in seinem künstlerischen Schaffen nicht.
 
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