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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

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https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0020

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sein Opfer sich nicht mehr ent-
reißen lassen.
„Es muß ein ganz tüchti-
ger und brauchbarer Mensch
gewesen sein, und doch hat er
keine Arbeit finden können!"
so meinte der Schuhmann zu
mir. „Seine Papiere waren
gut und in bester Ordnung.
Es müssen doch wohl schlechte
Zeiten sein!"

-r. 7".

lag. Auch die würdige Matrone im eleganten Plüsch-
jackct, welche neben mir stand und unzählige Male
ihr mitleidiges „O Gott, der arme Mann!" hatte
ertönen lassen, holte jetzt ihre wohlgcfüllte Geldbörse
hervor und warf nach eifrigem Suchen zwischen den
Goldstücken mit einein neuen kläglichen „O Gott!"
eine — Nickelmünze in den Hut.
Nun stellte sich auch ein Schutzmann ein, der zuerst
die Menge zu zerstreuen suchte. Dann schaffte er mit
Hilfe des Arbeiters den Elenden in den Hausflur des
Bankhauses, indem sie ihn unter dem Arm ergriffen
und so mit sich schleiften, denn zum Gehen reichten die
Kräfte des Aermsten natürlich nicht hin. Nun drängten
sich die neugierigen, wollte sagen mitleidigen Seelen wie
toll an die Thür, durch welche der Gegenstand ihres
Interesses verschwunden war, um durch die Scheiben der-
selben das nun Kommende zu beobachten. Ein Drängen
und Stoßen sondergleichen entstand und es wäre höchst
wahrscheinlich noch eine Prügelei um den besten Platz
entstanden, wenn jetzt nicht ein zweiter Schuhmann er-
schienen wäre und energisch die Menge auseinander-
getrieben hätte. Die Dame im Plüschjacket stöhnte noch
einmal „O Gott, der arme Mann!" und wandte sich
dann zum Gehen. Auch ich setzte, trüben Gedanken
nachhängend, meinen Weg fort. —
Eine Stunde mochte ungefähr vergangen sein; längst hatten andere,
heitere Bilder der trüben Stimmung Platz gemacht, da führte mich
mein Heimweg an derselben Stelle vorbei, an der ich den glücklicher
Weise noch dem Hungertode entrissenen bedauernswerthen Menschen
liegen gesehen. — Doch was bedeutete das? Noch immer sah ich einen
Menschenschwarm an jenem Hause und in der Thür waren mehrere
Schutzleute aufgestellt. Eine schreckliche Ahnung ergriff mich und ich
beschleunigte meinen Schritt, um schnell Gewißheit zu erlangen. Da
kam eben der Todtenwagen des Leichenhauses herbeigefahren und hielt
vor dem Bankhause. Als ich näher gekommen war, trug man eben
eine schwarze Lade heraus und schob sie auf den Wagen, der schnell
davonfuhr. An einen graubärtigen Schutzmann, der mit ernster Miene
dein dahineilendcn Fuhrwerk nachblickte, wandte ich mich nun mit banger
Frage und der Beamte nickte wehmüthig. Ja, deine Hilfe, du wackerer
Arbeiter, war zn spät gekommen und auch dein Zehnpfennigstück, du
ehrwürdige Matrone mit dem Plüschjacket und dem mitleidigen „O Gott,
der arme Mann!" hatte seinen Zweck verfehlt. — Der Hunger hatte

Menge. Ein Schlückchen trank der Arme von der kalten Flüssigkeit,
dann aber sah man deutlich, daß er nichts mehr davon verlangte. Ja,
wenn Wasser allein vor dem Verhungern retten könnte — das hatte
er ja immer noch gehabt! Jetzt kam der Junge zurück. Fürwahr, er
hatte die Situation richtig erfaßt. — Zwei „Appctitbrötchen" brachte
er an, jene beliebten halben Weißbrötchen, von denen ein gesunder
deutscher Magen ein Dutzend verzehren kann, nm sich — hungrig zu
essen. Und mit Kaviar und Lachs waren sie belegt!
„Appctitbrötchen, Lachs, Kaviar, — das ist etivas für solche Leute,
die den Hunger für süß halten, aber nicht für diesen, der die bitterste
Art empfinden mußte, und doch — für die Henkermahlzeit passen
Delikatessen!" Das mußte der Gedankengang des wackeren Arbeiters
sein, als er die winzigen Dinger mit Stirnerunzeln in Empfang nahm
und sie dann dem Hungrigen reichte. „Da iß!" Und als wenn dieses
knrze Wörtchen im Stande sei, Todte zu erwecken, so kam mit einem-
male wieder Leben in die Gestalt da nuten. Wie ein Raubthier sich
auf seine Beute stürzt, so griffen plötzlich die eben noch so schlaffen,
bewegungslosen Arme gierig nach der ihnen gereichten Nahrung. Mitten
entzwei rissen sie das Brötchen, so daß der Kaviar sich an die knöchernen
Finger hängte, dann flogen sie zum Munde. Und nun begann ein
Zerren, ein Schlucken und Kauen, das jede Miene des abgemagerten
Antlitzes bewegte und die Aderstränge der eingefallenen Stirn doppelt
stark hervortreten ließ. O, cs war ein schrecklicher Anblick, wie ich ihn
gräßlicher nicht denken kann. Ein dreivicrtel Todter, der seinen letzten
Lebensfunken noch einmal anzufachen seicht und in seiner fürchterlichen
Todesangst noch einmal all seine Energie und Kraft, deren die fast
schon erstarrten Glieder noch fähig sind, znsammcnhänft. Und um
das Haupt die „Fünfundvierzig Millionen-Aureole" und Kaviar zur
Nahrung, den er bisher kaum dem Namen nach kannte, und vor sich
den liebenswürdigsten Menschenschwarm, der mit der gespanntesten Auf-
merksamkeit jeder seiner Bewegungen folgt und ihm die Happen im
wahrsten Sinne des Wortes in den Mund zählt. — Ein Glück für
den Aermsten, daß er sich seiner Situation nicht bewußt war; ich bin
fest davon überzeugt, daß er Niemand um sich her bemerkte, ja daß er
nicht einmal wußte, was er aß — ihm war es genug, daß er aß und
auch das schon war nur die mechanische Arbeit einer Maschine, der
die Speisung ausgegangen war und die nun das Versäumte nachzuholen
sucht. Aber wenn der Kessel den letzten Rest des Dampfes verbraucht
hat und man speist ihn nicht vorsichtig — dann zerspringt er.
Des schaulustigen Publikums schien sich nun aber doch eine Art
Beschämung über die hilfbereite That des Arbeiters zn bemächtigen. Ein
junger Mann machte den Anfang, er warf ein Markstück in den Hut
des Unglücklichen und wandte sich schnell zum Gehen. Das fand
schnell Nachahmung, viele der Umstehenden griffen in die Tasche und
die verschiedensten Geldstücke, klein und groß, flogen in den Hut, der
dem Bedauernswerthen entfallen war und neben ihm auf der Straße
 
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