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Deutsche Kunst- und Antiquitätenmesse [Hrsg.]
Die Weltkunst — 4.1930

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Nr. 39 (28. September)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44979#0026
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WELTKUNST

Jahrg. IV, Nr. 39 vom 28. September 1930

Die V olkswohnung

Mode und

Raumkunst

viel

Otto Firle-Berlin, Haus

St. in Berlin, Salonecke

Otto Firle-Berlin, Haus Dr.

S. in Berlin-Dahlem, Bibliothek

Das Erlebnis

Kramer und Blank, Frankfurt a. M., Siedlung Westhausen

wenige unserer Archi-

Aus dem Prometheus-Film „Mutter Krauses Fahrt ins Glück“

Hugo Häring, Groß-Siedlung Siemensstadt

iiüi


zum
war

Moment, Monumentali-
gutem Ausgleich sind

fest-
man
die
jeder

Begriffe.
Dreieck:
Schmuck-

Kunst ist die Gebärdensprache, mit der
unsere taubstumme Seele sich verständlich zu
machen sucht.

I : • fl I

Und 1000 Meilen davon entfernt, auf einem
anderen Stern: die ganze Wand ein Fenster.
Wer häufiger Gelegenheit hat, moderne
Siedlungen nach Einzug der Mieter zu sehen,
der weife, daß der Architekt fast immer nur an
gardinenlose, gegen Kitsch geimpfte Stahl-

möbel-Proleten denkt, weil das nämlich seiner
Fassade besser steht.
Natürlich wollen wir alle den staubigen
Wohngreueln zu Leibe gehen. Aber ich be-
zweifle nach meinen Beobachtungen, dafe die
bisherige Methode, den Mieter vor ein ästhe-
tisches fait accompli im „Bauhaus-Stil" zu
stellen, irgendwelche pädagogischen Wirkun-
gen gehabt hat. Ich vermute eher das Gegen-
teil. Dr. Adolf Behne

bemüht, denselben
Sinne zu erreichen,
läßt.

respektiert. Wenn es auch mehr als gewagt
wäre, von einer Abstraktion der Toiletten zu
sprechen, die gerade, schlichte Linie des
Interieurs findet sich im Anzuge der Frauen
wieder, folgt sogar allen Übertreibungen des
Raumkünstlers, opfert den Zopf des Alther-
gebrachten mit dem eigenen. Dafe die Damen
in der Betonung dieser schlanken Linie sogar
Krankheitsepidemien unterstützen, ist nur für
sie selbst verderblich und beweist, wie wenig
sich im Laufe der Jahrhunderte das Martyrium

der tragikomischsten Unfreiheiten des deut-
schen Künstlers. Wenn ein deutscher Künstler
die Wahl hat, vital zu sein mit 1 v. H. Kitsch —
oder erzlangweilig, doch garantiert kitschrein,
so schwankt er nicht; denn er weife, was heute
als „radikal“ gilt. Angst vor dem Kitsch ist
geradezu eine wichtige Komponente in unse-
rer Kunst!
So zerfällt das wohnende Deutschland in
zwei Lager:
Hier ist das Ideal die Gardine . . . vor
lauter Gardinen sieht man das Fenster nicht.

Lafe dich nicht dadurch beirren, dafe der
Kunstbegriff so oft zu wechseln scheint.
Wenn man eine leuchtende Scheibe längere

Wer durch die Kunst der Wirklichkeit ent-
rinnen will, ist wie ein Mann, der den Wein
mifebraucht, um sich zu berauschen. Die
Kunst gebraucht erst richtig, wer sie zu einem
Stück seiner Wirklichkeit macht.

Der durch Bildung gezüchtete Mensch hat
die Welt, die ihn umgibt, zu einem Saal mit
Spiegeln gemacht, die ihm, wohin er auch sieht,
immer wieder sein Bild zurückwerfen. Nicht
etwa nur in den Bezirken des Kulturlebens.
Ob er in der Landschaft um sich schaut, oder
herauf zum Sternenhimmel blickt, ja, selbst

£

erscheinen zu
Und wenn sie
Porte-chaise zu einem Fest getragen
mufeten sie kniend den Kopf zum
hinaus halten. Dafe die Revolution

der Demonstration zuzusehen, die vorbei-
marschiert (Abb. untenstehend).
Jedes Gesicht ist vom anderen verschieden,
jedes ist geprägt, hat seine Geschichte, sein
Schicksal.
Natürlich wäre es falsch, daraus zu fol-
gern: so charakteristisch, individuell geprägt,
müssen auch ihre Wohnungen sein. Denn es
schadet keinem Charakter und hindert nicht
die Charakterbildung, wenn das Fenster, durch
das er sein Licht bekommt, dieselben Maße
hat, wie alle anderen Fenster anderer Men-
schen auch, und wenn die Räume alle gleiche
Höhe haben. Wir bauen ja nicht Porträts nach
Mafe, sondern Räume, in denen sich die typi-
schen Wohnfunktionen gut abwickeln können.
Aber wenn wir uns entschlossen abwenden
von der Methode der Vorkriegszeit, durch ein
paar angeklebte Gipsornamente der Miets-
kaserne individuelle Züge,.. anzulügen, müssen
wir deshalb gleich den Menschen zur Nummer
werden lassen und ihn im laufenden Band
verpacken? Die alte Form war unwahr, aber
auch die Form des Rangierbahnhofs stimmt
nicht (Abb. nebenstehend).
Der Architekt wird zu solcher Diktatur ge-
trieben von einem oft nur ästhetischen Ehr-
geiz. Der Mensch ist hier wirklich nur Ob-
jekt. Auch der Inhaber einer Kleinwohnung
darf vom Architekten . . . zwar nicht das Un-
mögliche verlangen, aber doch vielleicht eini-
ges Verständnis und auch einige Liebenswür-
digkeit. Dafe solche möglich ist, zeigt wohl
diese Lösung von Hugo Häring, in der kollek-
tives und individuelles
tät und Intimität in
(Abb. untenstehend).
Liebenswürdig sind
tekten. Die meisten fürchten, dafe man ihnen
ein Atom Kitsch nachweisen könnte, wenn sie
lächeln,.. und schon wäre es aus mit der Un-
sterblichkeit. Angst vor dem Kitsch ist eine

wenn er die Augen schliefet und in die
Geistesräume des Denkens tritt, immer sieht
er das Bild des eigenen Selbst zurück-
geworfen. Nur wenn er ein Stück lebendiger
Kunst recht zu sehen versteht, blickt ihn bis-
weilen eine fremde Seele mit großen neuen
Augen an. Er sieht sie staunend und manch-
mal glaubt er gar das zu sehen, was er „das
Göttliche" nennt.

der Mode geändert hat. Wenn manches Mo-
ment der Pietät während der Umwälzungszeit
fallen muß, ist es nicht gefährlich. Erst wenn
in der Zeit der Auswirkung dieser Um-
wälzungen der Sinn für das Ererbte fehlt,
wird es bedenklich. Aber das bescheidene
Ornament findet sein Echo in den Dehors. An
der Schmucklosigkeit entdeckt der Mensch
neue Anregung zu vorsichtiger Betätigung des
Schmucktriebes, bis er ihn wieder übertreibt.
H. v. O.

Besonders heutzutage herrscht vielfach die
irrtümliche Ansicht, dafe das Rokoko sich im
Schnörkel verlor, in uferloser Vergewaltigung
der Natur. Bei der dem Modernen schwer

Der Architekt spricht heute mit Vorliebe
von Soziologie . . . und natürlich ist das ein
schöner Fortschritt gegenüber der Zeit, da er
von Ornamenten und Intarsien sprach. Aber
widerspricht seine diktatorische Methode nicht
ein wenig seiner soziologischen Stellung . .
besonders, wenn in der Diktatur so
ästhetische Überheblichkeit steckt?
Ich möchte hier ein paar Bilder zeigen:
Aus dem schönen Prometheus-Film „Mutter
Krauses Fahrt ins Glück“: die Menschen auf
dem Wedding stehen vor ihren Häusern, um

Aphorismen
von
Prof. Dr. Fritz Schumacher - Hamburg

verständlichen Auflösung dogmatisch
gelegter Formen im Ornament übersah
die beispiellose Selbstbeherrschung,
solche Auflösung ermöglichte, wie bei
bis zur äußersten Konseguenz durchgeführten
neuen Kunstidee. Es ist selbstverständlich,
dafe die Natur eine Kunstäußerung anregt,
aber nicht, um eine photographisch-treue
Kopie ihrer selbst auszulösen. Wenn die
Zeit des XV. u. XVI. Ludwig der Natur Gewalt
antat, folgte sie nur einer extremen Entwick-
lung, wie heute auch.
Wie weit das Äußere des Menschen, seine
Kleidung, die innere Ausstattung des Raumes
bestimmt — oder umgekehrt —, bleibt gleich-
Wichtig ist die
jeder Zeit neuen
ange-

gültig,
in
Kunstwerdens
strebte Harmonie die-
ser beiden
Aus dem
Spieltrieb,
trieb, Nachahmungs-
trieb entwickelten sich
nacheinander Skulptur,
Malerei und Baukunst.
Der Weg vom Höhlen-
menschen bis
Galanteriedegen
kaum weiter, als der
vom Galanteriedegen
zu moderner Sachlich-
keit. Wie der Höhlen-
mensch die Rohheit
seiner Umgebung und
seines Äußeren lang-
sam mit den beschei-
densten Mitteln zu än-
dern begann, indem er
Schmuck anbrachte, ist
der moderne Mensch
Zweck im abstrakten
indem er Schmuck fort-
Dafe die Frau zur Erzielung dieser
Harmonie von Mensch und Raum bestimmend
ist, ist fast zu selbstver-
ständlich, um erwähnt
zu werden. Man hat
das Rokoko den Gip-
felpunkt der Unnatur
genannt. Kein Wun-
der; denn wie es die
Beherrschtheit der Um-
gangsformen in äußer-
ster Wahrung, der De-
hors übertrieb, so ver-
bargen seine Ver-
treterinnen bis zum
Martyrium die mensch-
lichen Dehors. Es ist
fast unbegreiflich, was
die Frauen jener Zeit
ertrugen, um der Mode
gerecht zu werden.
Zeitgenossen erzählen,
dafe die Damen jener
Zeit ihren Ehrgeiz
darin sefeten, das Kinn
in der Mitte zwischen
der Spifce des Haar-
baues und den Fufe-
spißen
lassen,
in einer
wurden,
Fenster
dann mit diesen Dingen so gründlich auf-
räumte, daß fast völlige Nacktheit Mode
wurde, ist nicht verwunderlich. Wie in jeder
Epoche der Dekadenz schwand mehr und
mehr die Harmonie des Menschenbildes mit
dem farbig-zarten und trofe überladenem
Stuck einheitlichen Raum. Die Dehors gingen
verloren, je mehr sie gezeigt wurden.
Die Jefetzeit ist in ihren Extremen folge-
richtiger geblieben, hat mehr die Wirkungs-
einheit des Individuums mit dem Raume







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