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Die klassische Kunst.

das unermüdliche Beobachten und Sammeln des Forschers und die sub-
tilste künstlerische Empfindsamkeit. Er begnügt sich nie, den Dingen
nach ihrer äusseren Erscheinung als Maler gerecht zu werden, mit dem
gleichen leidenschaftlichen Interesse wirft er sich auf die Ergründung
des inneren Baues und der Lebensbedingungen aller Wesen. Er ist
der erste Künstler, der systematisch die Proportionen des menschlichen
und tierischen Körpers untersucht und von den mechanischen Verhält-
nissen beim Gehen, Heben, Steigen, Tragen sich Rechenschaft gegeben
hat, und er ist derselbe, der zugleich die umfassendsten physiognomischen
Beobachtungen angestellt und über den Ausdruck der Gemütsbewegungen
zusammenhängend nachgedacht hat.

Der Maler ist für ihn das klare Weltauge, das alle sichtbaren
Dinge beherrscht. Auf einmal erschliesst sich die Welt in ihrer ganzen
Fülle und Unerschöpflichkeit und Lionardo scheint sich mit allem
Lebendigen durch eine grosse Liebe verbunden gefühlt zu haben. Einen
bezeichnenden Zug der Art teilt Vasari mit, dass man ihn gelegentlich
auf dem Markt Vögel habe kaufen sehen, um sie der Freiheit zurück-
zugeben. Die Thatsache scheint den Florentinern Eindruck gemacht
zu haben.

In einer so universellen Kunst giebt es keine oberen und unteren
Probleme: die letzten Feinheiten der Lichtführung sind nicht interessanter
als die elementarste Aufgabe, das Dreidimensionale überhaupt auf der
Fläche körperlich erscheinen zu lassen, und der Künstler, der das mensch-
liche Antlitz zu einem Spiegel der Seele gemacht hat, wie kein anderer,
kann wieder sagen: die Rundung ist die Hauptsache und die Seele in
der Malerei.

Lionardo hatte so viel neue Sensationen von den Dingen, dass er
nach neuen technischen Ausdrucksmitteln suchen musste. Er wurde ein
Experimentierer, der sich kaum je genug thun konnte. Die Mona Lisa
soll er als unvollendet aus der Hand gegeben haben. Sie ist technisch
ein Geheimnis. Wo aber die Arbeit ganz durchsichtig ist, wie in den
gewöhnlichen Silberstiftzeichnungen, die alle seiner frühem Zeit ange-
hören, da wirkt er nicht weniger überraschend. Man kann sagen, er sei
der erste, der die Linie gefühlvoll behandelte. Wie er den Strich an-
und abschwellen lässt, im Kontur, das findet sich bei keinem sonst.
Die Modellierung bewerkstelligt er mit lauter gleichlaufenden geraden
Strichen; es ist, als ob er die Flächen nur zu streicheln brauchte, um
die Rundung der Form herauszubringen. Nie ist mit einfacheren Mitteln
Grösseres erreicht worden und der Parallelismus der Linien, wie ihn ja
 
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