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II. Lionardo.

1452—1519-

Unter allen Künstlern der Renaissance ist Lionardo derjenige
gewesen, der am meisten Freude an der Welt gehabt hat. Alle Er-
scheinungen fesseln ihn. Das körperliche Leben und die menschlichen
Affekte. Die Formen der Pflanzen und Tiere und das krystallhelle
Bächlein mit den Kieseln am Grunde. Die Einseitigkeit der blossen
Figurenmaler ist ihm etwas Unbegreifliches. »Siehst du nicht, wie viel
verschiedenerlei Getier es giebt, und so Bäume, Kräuter, Blumen, welche
Mannigfaltigkeit gebirgiger und ebener Gegenden, Quellen, Flüsse,
Städte, wie verschiedene Trachten, Schmuck und Künste?«1)

Er ist der geborne vornehme Maler, sensibel für das Delikate.
Er hat Gefühl für feine Hände, für durchsichtige Gewebe, für zarte Haut.
Er liebte im besonderen das schöne weiche, wellige Haar. Auf Ver-
rocchios Taufbild hat er ein paar Grasbüschel gemalt, man sieht sofort,
dass er sie gemacht hat. Keiner hat ein gleiches Gefühl für die Zier-
lichkeit der Gewächse.

Das Starke und das Weiche ist ihm gleichmässig vertraut. Wenn
er eine Schlacht malt, so überbietet er alle im Ausdruck der entfesselten
Leidenschaft und ungeheurer Bewegung und daneben weiss er die
zartesten Empfindungen zu beschleichen und den eben verschwebenden
Ausdruck festzuhalten. In einzelne Charakterköpfe scheint er sich ver-
bissen zu haben mit dem Ungestüm eines geschworenen Wirklichkeits-
malers, und dann plötzlich wirft er das wieder ganz weg und überlässt
sich den Visionen idealer Bildungen von einer fast überirdischen Schön-
heit und träumt jenes leise, süsse Lächeln, das wie der Wiederschein
eines innern Glanzes aussieht. Er empfindet den malerischen Reiz der
Oberfläche der Dinge und denkt dabei als Physiker und Anatom.
Eigenschaften, die sich auszuschliessen scheinen, sind bei ihm vereinigt:

b Lionardo, das Buch von der Malerei (ed. Ludwig): italienisch-deutsche Ausgabe
No. 73, deutsche Ausgabe No. 80.
 
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