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Die klassische Kunst.

Doch nimmt das Ideale offenbar im 16. Jahrhundert einen weit grösseren
Raum ein. Die Aspirationen dieses Zeitalters vertragen sich nicht mit
der Duzbrüderschaft, die das vergangene Jahrhundert mit dem gemeinen
Leben gepflegt hatte. Es ist merkwürdig, dass im selben Moment, wo
die Kunst von sich aus eine erhöhte Schönheit fand, auch die Kirche
für die Hauptgestalten des christlichen Glaubens eine gesteigerte
Würdigkeit verlangte. Die Madonna sollte nicht eine beliebige gute
Frau sein, die man von der Strasse her kennt, sondern die Spuren
menschlich-bürgerlicher Herkunft abgestreift haben. Jetzt erst wieder
waren aber auch die Kräfte da, das Ideale zu concipiren. Der grösste
Naturalist, Michelangelo, ist auch der grösste Idealist. Ausgestattet
mit der ganzen Begabung des Florentiners für das Individuell-Charakte-
ristische ist er zugleich derjenige, der am vollständigsten auf die
äussere Welt verzichten und aus der Idee schaffen kann. Er hat seine
Welt creiert und durch sein Beispiel ist (ohne seine Schuld) der Respekt
vor der Natur bei der kommenden Generation am meisten erschüttert
worden.

In diesem Zusammenhang ist endlich auch das noch zu sagen,
dass im Cinquecento ein erhöhtes Bedürfnis nach der Anschauung des
Schönen vorhanden ist. Dies Bedürfnis wechselt, es kann zeitweise fast
völlig zurücktreten vor anderen Interessen. Die vorausgehende Kunst
des Quattrocento hat die Schönheit, ihre Schönheit, auch gekannt, aber
sie nur selten gestalten wollen, weil ein viel stärkeres Verlangen nach
dem bloss Ausdrucksvollen, dem Charakteristisch-Lebendigen drängte.
Donatello ist das immer wieder anzurufende Beispiel. Derselbe Meister,
der den Bronze-David im Bargello erdacht hat, ist unersättlich im Häss-
lichen und hat den Mut, der widerwärtigen Bildung selbst bei seinen
Heiligen nicht aus dem Wege zu gehen, weil eben das Überzeugend-
Lebendige alles war und das Publikum unter diesem Eindruck nicht
mehr nach schön und hässlich fragte. Die Magdalena im Baptisterium
ist ein »zum länglichen Viereck abgemagertes Scheusal« (Cicerone,
erste Ausgabe) und Johannes der Täufer der ausgetrocknete Asket
(Marmorfigur im Bargello), der Gestalten am Campanile nicht zu ge-
denken. Schon gegen Ausgang des Jahrhunderts merkt man aber,
dass die Schönheit hervorbrechen will und im Cinquecento tritt dann
jene allgemeine Umformung der Typen ein, die nicht nur die niedrige
Bildung durch eine höhere ersetzt, sondern bestimmte Gestalten über-
haupt fallen lässt, weil sie nicht schön sind. Magdalena ist die schöne
Sünderin und nicht die Büsserin mit verwüstetem Leib und der Täufer
 
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