Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Lebensgeschichte

13

daß er hie und da leer wirkt, daß die Farbe kalt und dissonierend nnrd,
daß er mit seiner peinlichen Ausführlichkeit manchmal einen archaisierenden
Eindruck macht, allein es ist doch dieselbe Zeit, mo er nls Dekorntor sehr
flott in die breitere und vollere Geschmacksweise hineingeht, der die Zukunft
gehörte, und wenn die bildliche Produktion im ganzen mühsnmer geinorden
sein sollte, so ging eine heimliche Entwicklung doch immer weiter.

Es bereilet sich das zusammenfassende Sehen des letzten Stiles vor und
es bleibt nur zweifelhaft, ob das Naturgefühl ausreichen werde, die Form
lebendig zu erhalten.

Da kommt wie ein Akt der Vorsehung die niederländische Reise (1520/21).
Sie hatte einen bestimmten geschäftlichen Zweck, vom Nachfolger des Kaisers
Max, dem jungen Karl V., das Jahresgehalt neu bestätigen zu lassen, allein
Dürer muß wohl selbst gefühlt haben, wie wohltätig auf seine Sinnlichkeit
ein nochmaliger völliger Wechsel der llmgebung wirken würde. Als sein
Geschäft erledigt war, ist er denn auch noch lange da unten geblieben.

Er war ein Fünfziger, aber noch immer eindrucksfähig. Jn der An-
schauung niederländischer Kunst wird er wieder zum Maler. Mehr noch
als der Eindruck einzelner Bilder mag aber das ganze Reich der Dinge in
dem fremden Lande erfrischend auf ihn gewirkt haben. Es ist, als ob ihm
neue Organe entstünden, feinere Fühler, mit denen er das Neue zu sassen
und sich anzueignen versucht. Nie so wie damals ist die Freude des Sehens
und Nachbildens bei ihm laut und offenkundig. Er scheint zur Natur noch
einmal in ein frisches Berhältnis zu kommen, jeder Einzelfall, jedes Jndivi-
duum, jeder Kopf interessiert ihn und er geht ihm nach — nicht mit einer
bestimmten Formel der Zeichnung, sondern jetzt, als reifer Mnnn, fängt er
an, seine Manier von Grund aus zu revidieren und wird fo präzis und
pietätvoll, als ob er zum erstenmal der Welt gegenüberstünde.

Noch ist sein Taschenzeichenbuch teilweise erhalten und ein ziemlich mit-
teilsames Tagebuch, das uns ebenfalls zur Derfügung steht, vermehrt das
Behagen, mit dem wir Dürer in diesen Jahren begleiten. Es finden sich
aber auch Äußerungen darin, die zum Menschlich-Tiefsten gehören, was wir
von Dürer wissen. Er ist doch nicht nur der schaulustige Reisende gewesen,
und die Niederlande brachten ihm Dinge vor Augen, die ihn noch ganz
anders in Erregung setzten als der Walfisch, der in Seeland ans Land ge-
schwemmt worden war, oder die Goldfachen aus Amerika: ich spreche von
der Reformation. Dürer betrat in den Niederlanden einen vulkanischen
Boden. Die Spannung der Geister drohte hier in gewaltsamen Ausbrüchen
sich entladen zu wollen und einen Augenblick fchien es, als ob Erasmus
sich an die Spitze der Bewegung stellen würde. Dürer verkehrte in seinen
 
Annotationen