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DIE WURZELN DER EUROPÄISCHEN AUSDRUCKSFORMEN 31

drucksformen zwei Synthesen ergibt, die in polarem Wechsel sich ab-
lösen, und nicht nur eine einzige. Aber welcher Art sollte diese eine
Synthese sein?

Fassen wir zusammen, so müssen wir sagen: das, was wir Aus-
drucksform nennen, ist ein seelisches Element, das im Körpergefühl
wurzelt, aber stärker ist als die Körperstruktur, stärker als die Sprache,
stärker als der Mythos und die Oesellschaftsgliederung. Diese Aus-
drucksform ist unverwüstbar, so lange Erben der Rasse vorhanden sind.
Daß aber aus zwei gleichstarken Strömen ein Rhythmus, ein polarer
Wechsel entsteht, ist wohl ein einmaliges Schicksal Europas, ein Schick-
sal, das nur zu oft zu Verwicklungen und Mißdeutungen, ja zu tragi-
schen Konflikten geführt hat. Es gibt in keinem uns bekannten Kultur-
kreis eine derartige Spannweite wie die zwischen Shakespeare und Goethe
oder zwischen Raffael und Monet. Und doch läßt sich die einmal ge-
wordene Polarität keineswegs etwa wieder in sumerisch-nordisch auf-
spalten. Trotzdem beides darin enthalten ist. Denn jenes innerhalb des
Weltganzen so rätselhafte Feuerwerk der europäischen Kunst entzündet
sich immer wieder in diesem Gegensatz und ist ohne ihn undenkbar. Es
gäbe kein Griechenland und keinen Homer, wenn nicht vordem die
Pelasger in diesen Gebieten gesessen hätten; aber auch das kretische
Element wäre ohne die griechisch sprechenden Völker allmählig ver-
löscht, so wie die sumerische Kunst verlöscht ist. Gerade die Entzünd-
lichkeit, das Aufbrennen am anderen, das ist europäisch. Diese Phönix-
natur sichert ihm die gleiche Erhaltung, die die anderen Kulturen gerade
in dem Festhalten am gleichen finden. Wir würden allmählig ausbluten,
wenn wir uns nur auf eine Seite, etwa die klassische, festlegen wollten,
so wie die anderen Kulturen untergegangen sind in dem Augenblick, wo
sie fremde starke Wesensart zu der ihren machen wollten.
 
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