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Erinnerungen

Ingeborg Möhring
Als die um sieben Jahre Jüngere habe ich Kindheit und Jugend meiner
ältesten Schwester Irmgart aus der Perspektive der »Kleinen« erlebt.
Irmgart war die Dominierende in der Geschwisterreihe, die ihre
Führungsrolle gegenüber den Jüngeren ernst nahm.
In Kleve, wo unser Vater am Landgericht tätig war, bewohnten wir die
Hälfte eines großen, unpraktischen Doppelhauses mit vielen Treppen,
drei Veranden (eine davon war unser Spielzimmer) und vielen Zimmern
auf drei Ebenen. Hinter dem Haus lag der große Garten mit hohen
Bäumen, Springbrunnen, einem großen Rondell, Blumen- und Gemüse-
beeten. Er war unser Paradies. Hier konnten wir nach Herzenslust spielen
und auch schon mal das Rondell in einen Wassergarten verwandeln, in dem
wir herumplantschten, ohne den Zorn der Eltern fürchten zu müssen.
Der Vater war neben seiner juristischen Tätigkeit, die ihn weit über die
eigentlichen Dienststunden in Anspruch nahm, ein passionierter Jäger,
dessen Revier in Keeken nahe der niederländischen Grenze lag. Es war
Irmgarts Vorrecht und ihr großes Vergnügen, die Jagdbeute - meist
Fasane und Hasen - zu rupfen, zu häuten und auszunehmen.
Die Mutter war auf eine sorgfältige Erziehung der Kinder bedacht. Sie
spielte Klavier und hatte eine gute Stimme. So war es selbstverständlich,
daß auch Irmgart und ich am Klavier unterrichtet wurden, während die
Zweitälteste, Maria-Louise, die eine starke musikalische Begabung zeigte,
das Geigenspiel erlernte. Wir drei glänzten am Heiligen Abend zur Einlei-
tung der Bescherung, wenn wir im Angesicht des großen Weihnachts-
baumes, unsere fiebernde Ungeduld verbergend, die Weihnachtslieder
begleiteten.
Welch ein Gegensatz dazu das Weihnachtsfest 1923: Im Juni davor war
unsere Mutter gestorben, der Vater noch tief bedrückt. Irmgart und
Maria-Louise lagen im Krankenhaus, beide mit Blinddarmentzündung,
die bei Irmgart zu spät erkannt worden war und bereits lebensbedro-
hende Folgen gezeitigt hatte; unser dreijähriger Bruder Richard litt an
einer eiternden Kopfwunde, die er sich beim Schaukeln im Garten zuge-
zogen hatte.
Vor ihrem Tode hatte meine Mutter meinen Vater verpflichtet, Irmgart
privaten Zeichen- und Malunterricht durch den in Kleve wohnenden

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