Das zerstreute Liebespaar.
Die Geschichte, vom Standpunkt der Bühne
aus betrachtet.
(Populär - wissenschaftlicher Bortrag.)
Das, was man „Geschichte" nennt, kennen die Gebildeten säst
nur aus historischen Romanen und vom Theater her. Kein Professor
und kein Lehrbuch vermag auch in der That Geschichte so wirksam
vorzutragen, als die Bühne, und daß der Geschichtsunterricht, den
das Theater ertheilt, auch vollkommen für unsere Bildung ausreicht,
mag in Folgendem nachzuweisen uns gestattet sein.
Das älteste Kulturland der Erde ist Aegypten. Die Aegypter
führten, wie jedes gebildete Volk, viele Kriege, in welchen sie natür-
lich meistens gegen die Aethiopier siegten; in Folge dessen wurde
die äthiopische Königstochter immer Sklavin der ägyptischen. Den
Feldherrn war nicht zu trauen; sie waren im Stande, aus Liebe
ihre geheimsten Pläne zu verrathen, und wurden sie darum zur
Strafe mit der feindlichen Königstochter unterirdisch eingemauert, so
daß sie gemeinsam verhungerten. Die Aegyptier bedienten sich bei
solchen Vorkommnissen sehr langer trompetenartiger Instrumente,
auf welchen sie immer dieselbe musikalische Figur in verschiedenen
Tonarten hervorbrachten. — Ein besonders merkwürdiger Statthalter
Aegyptens hieß Joseph. Er hatte mehrere Brüder, die in ihrer
Jugend Benjamin genannt wurden, von denen jedoch nur dem
Simeon eine größere Rolle zugedacht war. — Aus der Zeit des alten
Babylon wäre noch die Königin Semiramis zu erwähnen, welche
aber bereits gänzlich vom Repertoir verschwunden ist. — Zu den
Die Geschichte, vom Standpunkt der Bühne rc. 125
ältesten Völkern gehören auch die alten Juden. Der Jude hatte
fast nie eine Frau, dagegen immer eine Tochter, die er bald Recha,
Rebekka oder Jessika nannte, und welche meistens einen Christen
liebte, was vor Einführung der Civilehe zu unangenehmen drama-
tischen Konflikten zu führen Pflegte. Der Jude wurde meistentheils
schließlich verbrannt. Zu seinen Geschäftskniffen gehörte es, für un-
bezahlte Wechsel sich ein Pfund Fleisch aus der Brust des Acceptanten
zu schneiden. — Die Hauptstadt der Juden, „Jerusalem", wurde von
„Titus" zerstört, welcher jedoch sehr selten mehr aufgeführt wird
und von dem nur mehr.die Ouvertüre der jüngeren Generation
bekannt ist.
Ein weiteres, in der alten Geschichte sehr bedeutendes Land ist
Griechenland, über welchem bekanntlich ein ewig blauer Himmel
lacht. Schon das Wort „Griechenland" elektrisirt uns. Wer dächte
da nicht an den Argonautenzug und die sehr anstrengende „Medea" ?
Ein ebenso trauriges Schicksal hatte die „Phädra", welche eigentlich
aus Frankreich stammt und nur in's Deutsche übersetzt wurde.
Antigone, mit Mendelssohns herrlicher Musik, Orpheus in der
Unterwelt, Iphigenie, Orestes und Pylades — lauter klassisch
griechische Gestalten!
Bon den Römern ist es besonders Julius Cäsar von
Shakespeare, welcher unser volles Interesse in Anspruch nimmt.
Auch Tiberius, Caligula und Nero sind uns in einzelnen Stücken
bekannt geworden — jenen Fechter von Ravenna nicht zu vergessen,
über dessen Autorschaft sich seiner Zeit ein interessanter Streit der
öffentlichen Meinung entspann. Aus der späteren Geschichte wissen
wir, daß der päpstliche Notar Cola Rienzi die Adeligen aus Rom
vertrieb, von R. Wagner dafür in Musik gesetzt und zum Tode ver-
urtheilt wurde. Er war ein großer Mann. Wo er erschien, war
er immer von Trompeten begleitet und ritt, ebenso wie Masaniello,
auf einem Schimmel. Dieser führt uns von selbst nach Neapel
zu der sicilianischen Vesper und der Stummen von Portici. —
In Sicilien lebte auch die Braut von Messina, dessen Einwohner
die seltene Eigenschaft besessen, fast immer alle zugleich dasselbe
zu sprechen, was, wie wir wissen, sehr schwierig ist und fast nie
zusammengeht.
Die Republik Genua war von Dogen beherrscht, die einen
so lauten Tritt hatten, daß sie sogar von Blinden aus den ersten
Blick erkannt wurden. Einzelne Grafen trachteten jedoch nach der
Herzogskrone. Sie hatten Mohren zur Bedienung, welche gehen
konnten, wenn sie ihre Schuldigkeit gethan hatten, und ließen
sich in Verschwörungen ein. Fiel dann zufällig dem Grafen der
Mantel in's Meer, so mußte auch der Herzog nach. — Die
Nachbarin Genua's, die Lagunenstadt Venedig, spielte in der Ge-
schichte eine noch wichtigere Rolle. Trotz ihres bedeutenden Handels
hatte sie jedoch nur einen Kaufmann, der besonders berühmt
wurde. — In Verona herrschte die eigenthümliche Sitte, daß
junge Leute die ganze Nacht auf dem Balkon zubrachten und so
zerstreut waren, daß sie nicht die Lerche von der Nachtigall unter-
scheiden konnten. Es gab dort sehr wackere Apotheker, die heimlich
Gift verkauften; indessen wurden die Leute meistens scheintodt be-
graben. — Das Herzogthum Ferrara hatte mit der Republik Venedig
große Kämpfe, aber Ferrara's Fürst erbebte nicht vor Venedigs
Dräuen und mußte diesen Ausspruch sicher ein halbdutzendmal wieder-
holen. — Im Mittelalter waren die Banditen in Italien eine sehr
häufige Erscheinung. Sie machten gegen entsprechendes Honorar ein
junges Gattenherz erkalten, schlichen deßhalb an der Tiber links
vorüber und stiegen in das Haus ihres Opfers, wo sie indessen
meistens einen zu gleichem Zwecke engagirten Collegen antrafen, was
Die Geschichte, vom Standpunkt der Bühne
aus betrachtet.
(Populär - wissenschaftlicher Bortrag.)
Das, was man „Geschichte" nennt, kennen die Gebildeten säst
nur aus historischen Romanen und vom Theater her. Kein Professor
und kein Lehrbuch vermag auch in der That Geschichte so wirksam
vorzutragen, als die Bühne, und daß der Geschichtsunterricht, den
das Theater ertheilt, auch vollkommen für unsere Bildung ausreicht,
mag in Folgendem nachzuweisen uns gestattet sein.
Das älteste Kulturland der Erde ist Aegypten. Die Aegypter
führten, wie jedes gebildete Volk, viele Kriege, in welchen sie natür-
lich meistens gegen die Aethiopier siegten; in Folge dessen wurde
die äthiopische Königstochter immer Sklavin der ägyptischen. Den
Feldherrn war nicht zu trauen; sie waren im Stande, aus Liebe
ihre geheimsten Pläne zu verrathen, und wurden sie darum zur
Strafe mit der feindlichen Königstochter unterirdisch eingemauert, so
daß sie gemeinsam verhungerten. Die Aegyptier bedienten sich bei
solchen Vorkommnissen sehr langer trompetenartiger Instrumente,
auf welchen sie immer dieselbe musikalische Figur in verschiedenen
Tonarten hervorbrachten. — Ein besonders merkwürdiger Statthalter
Aegyptens hieß Joseph. Er hatte mehrere Brüder, die in ihrer
Jugend Benjamin genannt wurden, von denen jedoch nur dem
Simeon eine größere Rolle zugedacht war. — Aus der Zeit des alten
Babylon wäre noch die Königin Semiramis zu erwähnen, welche
aber bereits gänzlich vom Repertoir verschwunden ist. — Zu den
Die Geschichte, vom Standpunkt der Bühne rc. 125
ältesten Völkern gehören auch die alten Juden. Der Jude hatte
fast nie eine Frau, dagegen immer eine Tochter, die er bald Recha,
Rebekka oder Jessika nannte, und welche meistens einen Christen
liebte, was vor Einführung der Civilehe zu unangenehmen drama-
tischen Konflikten zu führen Pflegte. Der Jude wurde meistentheils
schließlich verbrannt. Zu seinen Geschäftskniffen gehörte es, für un-
bezahlte Wechsel sich ein Pfund Fleisch aus der Brust des Acceptanten
zu schneiden. — Die Hauptstadt der Juden, „Jerusalem", wurde von
„Titus" zerstört, welcher jedoch sehr selten mehr aufgeführt wird
und von dem nur mehr.die Ouvertüre der jüngeren Generation
bekannt ist.
Ein weiteres, in der alten Geschichte sehr bedeutendes Land ist
Griechenland, über welchem bekanntlich ein ewig blauer Himmel
lacht. Schon das Wort „Griechenland" elektrisirt uns. Wer dächte
da nicht an den Argonautenzug und die sehr anstrengende „Medea" ?
Ein ebenso trauriges Schicksal hatte die „Phädra", welche eigentlich
aus Frankreich stammt und nur in's Deutsche übersetzt wurde.
Antigone, mit Mendelssohns herrlicher Musik, Orpheus in der
Unterwelt, Iphigenie, Orestes und Pylades — lauter klassisch
griechische Gestalten!
Bon den Römern ist es besonders Julius Cäsar von
Shakespeare, welcher unser volles Interesse in Anspruch nimmt.
Auch Tiberius, Caligula und Nero sind uns in einzelnen Stücken
bekannt geworden — jenen Fechter von Ravenna nicht zu vergessen,
über dessen Autorschaft sich seiner Zeit ein interessanter Streit der
öffentlichen Meinung entspann. Aus der späteren Geschichte wissen
wir, daß der päpstliche Notar Cola Rienzi die Adeligen aus Rom
vertrieb, von R. Wagner dafür in Musik gesetzt und zum Tode ver-
urtheilt wurde. Er war ein großer Mann. Wo er erschien, war
er immer von Trompeten begleitet und ritt, ebenso wie Masaniello,
auf einem Schimmel. Dieser führt uns von selbst nach Neapel
zu der sicilianischen Vesper und der Stummen von Portici. —
In Sicilien lebte auch die Braut von Messina, dessen Einwohner
die seltene Eigenschaft besessen, fast immer alle zugleich dasselbe
zu sprechen, was, wie wir wissen, sehr schwierig ist und fast nie
zusammengeht.
Die Republik Genua war von Dogen beherrscht, die einen
so lauten Tritt hatten, daß sie sogar von Blinden aus den ersten
Blick erkannt wurden. Einzelne Grafen trachteten jedoch nach der
Herzogskrone. Sie hatten Mohren zur Bedienung, welche gehen
konnten, wenn sie ihre Schuldigkeit gethan hatten, und ließen
sich in Verschwörungen ein. Fiel dann zufällig dem Grafen der
Mantel in's Meer, so mußte auch der Herzog nach. — Die
Nachbarin Genua's, die Lagunenstadt Venedig, spielte in der Ge-
schichte eine noch wichtigere Rolle. Trotz ihres bedeutenden Handels
hatte sie jedoch nur einen Kaufmann, der besonders berühmt
wurde. — In Verona herrschte die eigenthümliche Sitte, daß
junge Leute die ganze Nacht auf dem Balkon zubrachten und so
zerstreut waren, daß sie nicht die Lerche von der Nachtigall unter-
scheiden konnten. Es gab dort sehr wackere Apotheker, die heimlich
Gift verkauften; indessen wurden die Leute meistens scheintodt be-
graben. — Das Herzogthum Ferrara hatte mit der Republik Venedig
große Kämpfe, aber Ferrara's Fürst erbebte nicht vor Venedigs
Dräuen und mußte diesen Ausspruch sicher ein halbdutzendmal wieder-
holen. — Im Mittelalter waren die Banditen in Italien eine sehr
häufige Erscheinung. Sie machten gegen entsprechendes Honorar ein
junges Gattenherz erkalten, schlichen deßhalb an der Tiber links
vorüber und stiegen in das Haus ihres Opfers, wo sie indessen
meistens einen zu gleichem Zwecke engagirten Collegen antrafen, was
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Das zerstreute Liebespaar"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 95.1891, Nr. 2410, S. 125
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg