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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 29.1918

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Tietze, Hans: Otto Wagner
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https://doi.org/10.11588/diglit.6188#0165

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KUNSTCHRONIK

f Neue Folge. XXIX. Jahrgang 1917/1918 Nr. 29. 3. Mai 1918

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 10 Mark.
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OTTO WAGNER f

Mit Otto Wagner, der am 11. April im 77. Lebens-
jahre gestorben ist, ist ein Architekt von uns ge-
schieden, der rüstig und erfolgreich an der großen
Baubewegung der Gründerjahre teilgenommen hatte,
gleichzeitig der Baukünstler, der den historisierenden
Stil von damals am radikalsten überwunden und am
heftigsten bekämpft hat. Von den schüchternen Ver-
suchen am Theaterbau des Wiener Orpheums, das
1864—65 entstand, als Van der Nüll und Siccardsburg
die Hofoper schufen, von Frühwerken wie der Länder-
bank oder Wohnhäusern in der Stadiongasse und am
Rennweg führt zu den späten Arbeiten der Postspar-
kassa, der Kirche am Steinhof und den letzten Ent-
würfen eine Entwicklung von einer Spannweite, die
das Maß natürlichen Wachstums zu überschreiten
scheint. Es liegt in diesem Wandel von der An-
lehnung an die Formen der späten Renaissance zur
Forderung und Anwendung rein konstruktiver Prin-
zipien ein scharfer Bruch, eine bewußte Abkehr und
Selbstbestimmung; die intensive Beschäftigung mit
technischen Fragen, wie sie die Leitung der Stadt-
bahnbauten mit sich brachte, mag diesen Übergang
äußerlich zum Teil erklären, seine innerliche Begrün-
dung besitzt er in der unbeugsamen Entschlossenheit,
mit der dieser Wahrheitsfanatiker das als richtig und
notwendig Erkannte über die Trümmer früherer Über-
zeugungen verfolgte. Wagner hat in der zweiten Hälfte
seines Schaffens die erste schonungslos preisgegeben,
der alte Wagner den jungen verleugnet, wenn er nicht
etwa erst mit ergrauendem Haar nach Überwindung
seines geläufig gemeisterten Epigonentums der wahr-
haft junge geworden, von dem Frische und Anregung
auf seine Umgebung überströmten. In der Stadt der
billigen Kompromisse und der zermürbten Energien
stand er in seiner unerbittlichen Konsequenz und un-
zerbrechbaren Tatenfreude wie ein Felsblock im Tief-
land; an seinem unzerstörbaren Optimismus und seinem
von keiner Enttäuschung zu beugenden Willen zum
Wirken hat sich der Kleinmut und Unmut jüngerer
Freunde immer wieder aufgerichtet. Wagner hat bis
zum letzten Atemzug gekämpft; immer wieder hat er
sich an Konkurrenzen beteiligt und seine Grundsätze,
wenn er sie nicht in Taten auswirken konnte, in
Worten und Streitschriften unermüdlich verfochten;
in den Jahren, da er wohlverdienter Ruhe pflegen
durfte, war er der eifrigste Agitator seiner Sache.
Seine Überzeugungstreue, sein lauterer Eifer bestätigten
seinen durch überlegenes Können erworbenen An-
spruch auf eine führende Rolle innerhalb der modernen
Architektur; eine Zutat von diplomatischer Geschick-
lichkeit, eine leichtere Schmiegsamkeit hätten ihm viel-

leicht geholfen, seine Partei erfolgreicher zu fördern
und die tiefe Kluft zu überbrücken, die die Wiener
Architekturwelt spaltet, aber er wäre dann nicht mehr
Otto Wagner gewesen, das Beste, was er der Jugend
zu bieten hatte, hätte darunter gelitten, das Vorbild
eines in Erfolg und Mißerfolg gehärteten Charakters.
Was er gelehrt und geschaffen hat, tritt gegenüber
seinem großen menschlichen Beispiel zurück.

Diese Lehre, die er in verschiedenen Schriften —
nicht immer schriftstellerisch glücklich —■ dargelegt
hat, beruht auf der Forderung, daß das Bauwerk seine
Bedingtheit aus Gebrauchszweck, Material und Kon-
struktion unverhüllt zur Schau zu tragen habe. Nicht
in ihrer Neuheit lag das den Widerspruch heraus-
fordernde Element dieser These — denn sie schließt
eine stillschweigende Voraussetzung aller Architektur
ein —, sondern in der Schroffheit, mit der alles über
die tektonischen Notwendigkeiten Hinausgehende ab-
gelehnt und selbst das Ornament aus struktiven Ele-
menten abgeleitet wurde. Die geistige Begründung
dieser architektonischen Wahrhaftigkeit fand Wagner
in seinem Verständnis für die sozialen Strömungen
unserer Zeit; die Großstadt war ihm das für die Gegen-
wart kennzeichnendste Baugebilde, der Zinshausblock,
das Arbeiterviertel, das Amtsgebäude größten Um-
fanges waren die Aufgaben, die ihm die spezifischen
für den modernen Baukünstler schienen. Ihre völlige
Neuheit enthielt den Verzicht auf die Formen der
Vergangenheit als eine sittliche Forderung; ihr ob-
jektiver Charakter, in dem alles individuelle Sonder-
wesen unbarmherzig verschmilzt, gab der Baukunst,
wie sie Wagner als Ausdruck kulturellen Zeitbedürf-
nisses verstand, das neue Gesetz. Eine gewisse Enge
ist dieser Auffassung, die die volle Spannung leben-
digen Bauschaffens nicht zu umschließen vermag, un-
schwer anzumerken, und es ist charakteristisch, daß
sich aus diesem Mangel heraus bei seiner Nachfolge
Architektur gewissermaßen in Konstruktion und Or-
namentierung gespalten hat, wie sie bei Siccardsburg
und van der Nüll, von denen Wagner herkommt, bis
in die Personen hinein nebeneinander gelegen waren.
Aber der Nachdruck, mit dem er für seine Lehre ein-
stand, erklärt sich aus der klaren und richtigen Er-
kenntnis, daß der zur . Routine erstarrenden Baukunst
aus einseitiger Betonung ihrer Grundlagen und un-
entwegtem Hinweis auf ihre sozialen Untergründe
neues Leben zugeführt werden müsse. Aus dem Grauen
vor dem ungesunden Kult der Vergangenheit und vor
dem sentimentalen Hang zum Lokalen, die die Wiener
Krankheit in der Kunst heißen können, ist Wagner
ins entgegengesetzte Extrem übergesprungen; der Ekel
vor dem zerfressenden Passivismus, an dem er seine
Umgebung leiden sah, hat ihm gelegentlich futu-
 
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