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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 29.1918

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Ring, Grete: Zu Jan van Scorels Obervellacher Altar
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https://doi.org/10.11588/diglit.6188#0177

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KUNSTCHRONIK

Neue Folge. XXIX. Jahrgang 1917/1918 Nr. 31. 17. Mai 1918

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 10 Mark.
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ZU JAN VAN SCORELS OBERVELLACHER
ALTAR

Von Grete Ring

Der Altar von Obervellach in Kärnten, sonst nur
mühsam zu erreisen, ist für die Kriegszeit in Wien
im Depot des alten Belvedere geborgen und steht
dem Kunstforscher zur langerwünschten Besichtigung
zur Verfügung. Es war im Jahre 1881, als die Ge-
meinde Obervellach sich zum erstenmal entschlossen
hatte, das Altarwerk ihrer Kirche nach Wien zur
Restauration zu geben. Bei dieser Gelegenheit wurde
die Signatur »Joannes Scorel hollandius« und das
Datum 1^20 aufgefunden; dem erstaunten Forum der
Gelehrten ergab sich damit das unzweifelhafte Do-
kument einer ersten »vorromanistischen« Periode des
berühmten Hauptvertreters des Romanismus in den
nördlichen Niederlanden, von dem man bis dahin
hatte annehmen müssen, daß seine Anfänge bereits
vom neuen italianisierenden Stil beschattet gewesen
seien. In den Kunstzeitschriften der achtziger Jahre
hallt es denn auch von dem seltenen Funde wider,
es entfacht sich eine Polemik darüber, ob der »frühe
Scorel« mit dem Meisterndes Marientodes gleichzu-
setzen sei — uns Heutige mit angenehm überheblichen
Gefühlen über die Fortschritte der Stilkritik im all-
gemeinen erfüllend — und der Meister steht für ein
Jahrzehnt im Brennpunkt jdes zünftigen Interesses.
Ein schöner Aufsatz von Carl Justi, aufschlußreiche
Widerlegungen der Semper-Thomann-Wurzbachschen
Marientodmeistertheorie durch Bode und Scheibler
blieben als positive Ergebnisse jener Debatten zurück.
Mit der seltsamen Periodizität, die der Kunstschrei-
bung eignet, tritt Scorel ebenso plötzlich wie er auf-
getaucht wieder vom Schauplatz des Interesses ab.
Und während seine südniederländischen Widerspiele
Gossaert und Orley, seine Schüler Heemskerck und
Moro längst monographisch festgelegt sind, blieb er auf
gelegentliche Erwähnungen in Ausstellungsberichten, in
Galeriewerken u. dergl. beschränkt. In seinen »Studien
zur Entwicklungsgeschichte des Malers Jan Scorel«
(Tübinger Diss. 1908) beginnt Binder, ein Postament
für einen Scorel zurechtzurücken, doch blieb er die
Gestaltung seines Meisters selbst bis heute schuldig.

Im Augenblick liegt der gleiche äußere Anlaß vor,
sich mit Scorel und dem Obervellacher Altar zu be-
fassen, wie vor 37 Jahren: die Gelegenheit scheint
günstig, das Urteil über das ebensoviel zitierte wie
wenig gekannte Werk an der Hand des Originals
zu revidieren.

Den Kritikern von damals war von vornherein
klar, daß ein Jugendwerk, das den »echten noch un-
verfälschten und unverwelschten nordischen Scorel vor

Augen führt« (Justi), auch qualitativ an der Spitze
des Scorelwerkes marschieren müsse. Es klingt hier
die im Zeitalter Hegels und der Romantik wurzelnde,
durch den Namen Karl Schnaases am deutlichsten
bezeichnete Kunstauffassung nach, bei der das rein
künstlerische Element hinter dem nationalen zurück-
tritt und der Romanismus nur als Treubruch an hei-
mischer Art verstanden und verurteilt wird. Seither
hat sich die Wertung jener Widerspruchs- und ge-
staltungsreichen Epoche nordischen Kunstschaffens von
Grund auf gewandelt: das Phänomen Romanismus er-
scheint als das notwendige Mittelglied zwischen der
Malerei des 15. und des 17. Jahrhunderts, hinter der
Zerstörung wird die aufbauende Arbeit sichtbar, man
müht sich, im »Verfall« das zu erkennen, was jung
und zukunftsvoll ist. Es war vor allem Heidrich,
der von der klaren Warte seines historischen Über-
blicks wieder und wieder darauf gewiesen hat, daß
die Entwicklung der niederländischen Kunst im 16.
Jahrhundert nur scheinbar einen Bankerott des schöpfe-
rischen Vermögens der Vorzeit darstellt, während sich
in der Tat hier die große Kunst der Zukunft vor-
bereitet. Dabei sieht Heidrich die Schöpfungen des
Rornanismus selbst noch mit den Augen der Schnaase-
Justi'schen Generation, als »alles in allem ohne eigenen
Wert, bedeutend nur dadurch, daß diese Künstler . . .
für die Zukunft, für die Verwirklichung des Ideals
einer neuen freieren Kunst arbeiteten«. In den letzten
Jahren hat sich der Zeiger des Zeitgeschmacks wieder
um ein Stück weitergeschoben: man darf es nun
wagen, die Denkmale jener Richtung an und für sich
zu werten und sie — ohne des Sakrilegs beschuldigt
zu werden — mit den reinnationalen Schöpfungen
vom Ausgang des 15. und Beginn des 16. Jahr-
hunderts wägend zusammenzuhalten.

Der Obervellacher Altar zeigt im Mittelbild eine
Darstellung der Sippe Christi, ein ruhiges Beieinander
von heiligen Personen, deren Züge leicht porträthaft
gefaßt sind. Nirgend ein Ansatz zu einer Handlung,
zu Beziehungen zwischen den einzelnen Personen,
keine kunstvoll gebauten Gruppen, keine Überordnung
eines Agierenden den anderen gegenüber. Es ist das
alte, seit Geertgen unverändert überkommene Schema
des nordischen »Gruppenporträts«, aus dem nur ein
gut Teil der inneren Beseelung geschwunden ist, so
daß das Ganze ein wenig lahm und zurückgeblieben
wirkt. Der rechte Teil der Tafel zeigt die elfköpfige
Menge in einer Ebene fast reliefmäßig angeordnet,
vor einem mächtigen Häuserkomplex, der über den
Köpfen der Dargestellten wuchtet und sie zu keinem
rechten Dasein kommen läßt. Das Paar mit den drei
Kindern zur Linken — am ehesten als »Gruppe« zu
bezeichnen — steht bei einem jener starken Bäume
 
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