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Schlagintweit, Emil
Indien in Wort und Bild: eine Schilderung des indischen Kaiserreiches (Band 1) — Leipzig, 1880

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https://doi.org/10.11588/diglit.613#0077
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I

bewusst wird; hiezu kommt bei den Indiern, dass sie durch ein religiöses Dogma gebunden sind. Die
didaktischen Werke der Sanskrit-Literatur führen die Gründung des Kastenwesens auf göttliche
Satzung zurück und lassen die Einwohner der brähmanischen Welt von der Gottheit als vier
Gruppen erschaffen worden sein: die Brähmanen oder Priester aus seinem Munde, die Kschatriyas
oder Krieger aus seinem Arme, die Waisyas oder Kaufleute und Gewerbetreibenden aus seinem
Schenkel, die dienenden Klassen, die Südras, endlich aus seinem Fusse. Die oberen drei Kasten
sind die zweimal Geborenen und tragen zum Wahrzeichen dessen die heilige Schnur von Baum-
wolle, die auf der linken Schulter aufliegt und unter dem linken Arme hindurchgeht. Uralt ist
der Gegensatz zwischen Fürsten (Kriegern) und Priestern. Im Kampfe um den Vorrang waren
die Brähmanen anfangs vollständig siegreich, so dass sie sich rühmen, die Erde von den Kriegern
befreit zu haben, die eine Plage und Geissei geworden waren; aber sie selbst setzten die Fürsten
und Krieger wieder in ihre Rechte ein, da nach Vertilgung der Kschatriyas grosse Unordnung
in der Welt entstand und die Erde, des Schutzes der die Gesetze vollziehenden Mächtigen beraubt, in
die Tiefe zu sinken drohte. Noch heute ist in Hindu-Fürstenthümern den Brähmanen ein grosser
Einfluss auf die Regierung beigelegt; wie in alter Zeit verbleibt der Titel dem Fürsten, die
Macht ruht bei den Brähmanen.

Die Behauptung einer Viertheilung der indischen Gesellschaft ist im Widerspruche mit
dem Zeugnisse aller unabhängigen Literatur, welches Zeitalter sie hervorgebracht haben mag; sie
kann auch um deswegen nie praktisch geworden sein, weil sich davon in der Gegenwart nur
die obere Hälfte erhalten hat, während von der anderen Hälfte keine Spur mehr anzutreffen ist.
Mag die hässliche Theorie, dass der Brähmane selbst über den Göttern stehe und dass für ihn
allein während langer Zeitalter der Kschatriya kämpfen, der Waisya Handel treiben, der Südra
Dienerverrichtungen vornehmen muss, auf der Spitze des Schwertes durch siegreiche Eindringlinge
auferzwungen oder den Aboriginer-Einwohnern durch die geistige Ueberlegenheit der Brähmanen auf
friedlicherem Wege beigebracht worden sein, der religiöse Faktor im Kastenprinzipe hat seine Fort-
dauer gegen alle Angriffe bewahrt. Nicht weniger bedeutsam für die Gestaltung des indischen
Kastenwesens ist jedoch der sociale Faktor geworden oder die Neigung, Kaste gleich Beschäftigung
zu setzen. In dem Masse, in welchem der Glaube, dass die Gottheit selbst die Unterschiede des
Hindu-Kastensystems bestimmte, schwächer und schwächer wird, in demselben Grade gewinnt die
sociale Seite an Kraft.

Noch heute sind in ganz Indien die Brähmanen eine lebende Wesenheit. Die Kschatriya
im Sinne von Herrscher sind sprach- und sinnentsprechend ersetzt durch Thäkur (ursprünglich
„Gottheit," dann Ehrentitel) und Rädschput (Fürstensöhne); die andere Hälfte dagegen, die Waisya
und Südra, sind selbst im Namen gänzlich in Vergessenheit gekommen. Nicht erst in der Gegen-
wart ist es so gekommen, dieser Zustand scheint schon seit langer Zeit eingetreten zu sein. Die
Worte Waisya und Südra könnten aus Rämäyana und Mahäbhärata ausgemerzt werden, ohne dass
sich eine der beiden Sammlungen unvollständig erwiese; wollte man aber die Worte Brähman
und Kschatriya ausstreichen, so würde der Rahmen der Gedichte sofort zusammenbrechen.

Die Stärke einer Genossenschaft, die wie die Brähmanen den Anspruch auf den Besitz
einer geheimen Wissenschaft erhebt, liegt in der Abschliessung; ein militärischer Körper dagegen
gedeiht nur durch Ausdehnung. So lange die Arier im Pandschab in enger Kantonirung,
wie sie für eine kleine Angriffstruppe unerlässlich ist, sesshaft blieben, war die Schranke nicht
niedergerissen, welche sie vom indischen Volke trennte. Alle niederen Dienste wurden den über-
wundenen und theilweise ausser Besitz gesetzten Landeskindern überlassen; die Eindringlinge
pflegten die ihnen besser zusagenden Geschäfte des Kriegshandwerkes oder der gelehrten Studien
und die Umwandelung eines Kschatriya in einen Brähmanen konnte damals kein auffallenderes

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