Die jüngere Geschichte des Bardewikschen Codex

(Auszüge aus: VON DER TRAVE AN DIE WOLGA. Bericht über die Auslagerung und Rückkehr der Lübecker Archivalien nach 1945 von Antjekathrin Graßmann und BERICHT ÜBER DIE WIEDERAUFFINDUNG DES BARDEWIKSCHEN CODEX IN JURJEWETZ, von Natalija Ganina)

Im Mittelalter wurde der Bardewiksche Codex in der Lübecker Wettestube aufbewahrt, seit dem 19. Jahrhundert in der Registratur zu Lübeck.

Als der Reichsminister der Luftfahrt am 26. August 1939 (fünf Tage vor dem deutschen Angriff auf Polen) Richtlinien zur Durchführung des Luftschutzes in Museen, Büchereien, Archiven und ähnlichen Kulturstätten erließ, ergriffen auch die Lübecker Archivare die notwendigen Maßnahmen. Unter Schwierigkeiten, auf die hier nicht eingegangen werden soll, gelang es, in zwei großen Lieferungen im Juni 1942 631 und im Juli 1943 372, also insges. 1003 Kisten mit den wertvollsten und wesentlichsten Unterlagen des Lübecker Archivs, darunter die Karten- und die Münzsammlung (in sieben Kisten) im Stollen eines Kalibergwerks der Wintershall AG in Bernburg/Sachsen-Anhalt 400 m unter Tage unterzubringen – der Inhalt von insgesamt neun Eisenbahnwaggons, dabei auch Kisten mit Handschriften und Inkunabeln der Lübecker Stadtbibliothek.

Nach ihrem Einmarsch am 16.4.1945 hatten amerikanische Truppen die Archivkisten untersucht, z. T. geöffnet und unverschlossen gelassen, sodass Archivgut lose herumgelegen hatte. Zu einer ersten Öffnung durch die sowjetische Besatzungsmacht kam es im Januar 1946, dann zur Entnahme aus dem Stollen am 17./18. März und schließlich zum Abtransport nach Berlin/Rummelsburg, wo die Kisten auf dem Gelände der Papierfabrik AZETA untergebracht wurden. Im August und September 1946 ging es dann mit unbekanntem Ziel nach Osten. Laut Aufzeichnungen der sowjetischen Stellen handelte es sich um die 1003 Kisten, die nach Leningrad gebracht wurden. Die Bestände aus den Staatsarchiven und Bibliotheken von Lübeck, Bremen, Hamburg u. a. kamen am 1. August 1946 mit dem Militärzug 176/8037 nach einem kurzen Zwischenhalt in Berlin in Leningrad an.

Die Spur des Transports lässt sich verfolgen. Denn der Bremer „Weserkurier“ vom 17. Juni 1948 berichtete von Mitteilungen eines deutschen Kriegsversehrten bei seiner Heimkehr nach Bremen über das Umladen von Kisten in Eisenbahnwaggons in Brest (bis 1939: Brest-Litowsk; Umladen von Normalspur auf Breitspur): „Die etwa 50 deutschen Güterwagen enthielten bis zum Wagendach große Kisten, die mehrere Zentner wogen. Nur jeweils 6 bis 8 Kranke konnten diese Kisten mit deutscher Aufschrift bewältigen. Als mehrere der Kisten durch Sturz zerbrachen, sahen wir, daß wertvolle Bücher, kenntlich an den meist kostbaren Leder- oder Halbleder-Einbänden, ihr Inhalt war. Dabei habe ich mit eigenen Augen Bücher der Staatsbibliothek zu Bremen und der Bibliotheken von Lübeck, Braunschweig, Magdeburg und Berlin vorgefunden […]. Außer den Büchern und Registern waren in den Kisten alte Handschriften, Meisterbriefe und ähnliches enthalten, dessen Wert wir nur ahnen konnten.“ Mag der Bardewik-Codex darunter gewesen sein und zu diesen sog. Transportschäden gehört haben? Hellhörig machte auch die Mitteilung eines anderen Kriegsheimkehrers, er hätte in dem Offiziersgefangenenlager Oranki ca. 50 km südlich von Nischni Nowgorod (1932–1990 trug die Stadt den Namen Gorki) mehrere Bücher mit dem Stempel der Lübecker Stadtbibliothek gesehen.

Am 13. Juni 1989 tauschten die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion gleichlautende Noten über die beiderseitige Rückgabe des Archivguts von Reval/Tallinn und der drei Hansestädte an die jeweiligen Eigentümerinnen aus. Im August 1990 fanden sich die deutschen und sowjetischen Archivare im Bundesarchiv in Koblenz zusammen, um die Durchführung der Transporte zu besprechen, die dann nach feierlicher Unterzeichnung der Übergabe/Übernahmeprotokolle in Koblenz und Moskau zwischen dem 2. und 16. Oktober 1990 abgewickelt und sogar im sowjetischen Fernsehen präsentiert wurden. Insgesamt erhielt Lübeck 1.200 russische Archivkartons und 800 Amtsbücher, d. h. 300 lfd. Regalmeter, an historischem Quellenmaterial zurück.

Um das Jahr 2000 wurde bekannt, dass einzelne Archiv-Stücke in die Russische Staatsbibliothek in Moskau und die Nationalbibliothek in St. Petersburg gelangt waren, darunter eine Reihe von Rechtshandschriften, jedoch nicht der Bardewik-Codex und auch nicht die Lübecker Rechtshandschrift des Tidemann Güstrow von 1348, ebenso nicht das Lübecker Fragment.

2014 schlug das Auftauchen des Bardewikschen Rechtscodex wie eine Bombe ein, der auf „dunklen Wegen“ nach Jurjewetz gelangt war.

Seit 1945 galt die prächtige und für die wissenschaftliche Forschung so wichtige Rechtshandschrift Albrechts von Bardewik von 1294 als verschollen. Die Wiederauffindung des Bardewikschen Codex haben wir vor allem der Energie und dem Engagement der angesehenen Kunsthistorikerin und Konservatorin Inna Mokretsova (Moskau, Staatliches Forschungsinstitut für Restaurierung; † 2020) zu verdanken. Schon vor Jahren wies sie nachdrücklich auf einen mündlichen Bericht einer ihrer Kolleginnen hin, dass im Kunsthistorischen Museum der Wolgaer Kleinstadt Jurjewetz (heute ‚Museen der Stadt Jurjewetz‘) eine unbekannte deutsche Handschrift großen Umfangs aufbewahrt werde.