Kommentar

Mit ihrem dritten Band betritt die Edition Neuland. In einem rechtshistorischen Kommentar präsentiert Albrecht Cordes (Frankfurt a.M.), der früher bereits Untersuchungen über Teilbereiche des lübischen Rechts (Gesellschaftsrecht, Seerecht) vorgelegt hat, den gesamten Kosmos des Rechtsalltags von Lübeck und den rund 125 Orten im Ostseeraum, die das lübische Recht übernommen haben. Die Spannweite der Rechtsgebiete könnte kaum größer sein. Das Familien- und Erbrecht mit der dem lübischen Recht eigentümlichen Familiengemeinschaft were macht den Anfang. Dann folgen die Regeln über den Rat und seine zahlreichen Funktionen, wobei moderne Befangenheitsvorschriften auffallen. Eine Besonderheit sind die nach Aussage des Texts auf Heinrich den Löwen zurückreichende, in Wirklichkeit aber erst aus dem späten 13. Jahrhundert stammende Ratswahlordnung und der nur hier im Bardewikschen Codex überlieferte Ratseid.

Der Rat fungierte zugleich als Gericht, und zwar als Instanz über dem früher stadtherrlichen Vogtgericht und als Oberhof für die lübischen Städte. Dann erläutert der Kommentar die Spielregeln, nach denen Parteien ihre Konflikte kontrovers vor dem Rat oder aber im Konsens vor den vielen Schlichtungsinstanzen austrugen. Es geht um Zeugen, Beweisrecht und die „Fürsprecher“ – Parteivertreter, die mehr und mehr wie professionelle Rechtsanwälte aussehen.

Dann wendet der Codex sich wieder dem materiellen Recht zu. Viele strafrechtliche Sondervorschriften, besonders zu Fälschungs- und Körperverletzungsdelikten, werden besprochen. Zurück im Zivilrecht geht es um originelle Regelungen zum Vormundschaftsrecht (nur hier finden sich Spuren des römischen Rechts) und zur Geschäftsfähigkeit von Kauf- und anderen Frauen. Das für die Kaufmannsrepublik Lübeck zentrale Seerecht und auch das Recht der Rentenschulden – dem wichtigsten Kreditschöpfungs- und Finanzierungsinstrument – werden erörtert, und dann folgt ein interessanter Abschnitt über das Bau- und Nachbarschaftsrecht einschließlich der Fragen, ob man Regenwasser über die Dachtraufe auf das Nachbargrundstück tropfen lassen darf und welche Mindestabstände vom Nachbarn man bei der Anlage von Kloaken berücksichtigen muss.

Verstreut im Text finden sich weiterhin Vorschriften über den Kauf von Tuch und von Schweinen, über die Kündigung von Dienstverträgen, über die Miete von Häusern und über Werkverträge und das Eigentum an den neu hergestellten Sachen. Das Fremdenrecht spielt eine Rolle, und der Handel mit Grundnahrungsmitteln wie Brot und Hopfen wird reguliert. Die Wasserversorgung in der Stadt wird thematisiert, ebenso die Sicherheit der Verkehrswege, die Folgen von Unfällen im Straßenverkehr und schließlich auch die Haftung des Hufschmieds, der ein Pferd vernagelt.

Neben der Erläuterung der 256 einzelnen Artikel geht der Kommentar auch darauf ein, dass der Bardewiksche Codex – etwas im mittelalterlichen Stadtrecht Einmaliges – den bestehenden, in einer hergebrachten chronologischen Reihenfolge angeordneten Rechtsstoff neu sortierte. Diese Kapiteleinteilung gelang noch nicht komplett, sondern wurde nach 15 Sachkapiteln, die zwei Drittel des Textes ausmachen, wieder abgebrochen. Sie ist aber trotzdem sehr interessant, weil die Schöpfer des Codex sich hier gewissermaßen über die Schulter schauen lassen und ihre Vorstellungen über die inneren Zusammenhänge des Rechts offenlegen.

Das lübische Recht – zu diesem Ergebnis kommt der Kommentar – ist das weitgehend neu, im Lauf des 13. Jahrhundert entstandene Recht einer rasch wachsenden See- und Handelsstadt. Es ist geprägt von der Gruppe der Fernhändler, die im Rat den Ton angeben und für stabile, dem Handel und dem Geldverdienen günstige Rahmenbedingungen sorgen. Sie gehen pragmatisch mit den Normen um und wenden sie so an, wie es dem Besten der von ihnen selbst dominierten Stadt entspricht. Der Initiator des Codex, lässt es selbst in das Schreiberkolophon am Ende des Codex eintragen: Dieses Buch ließ schreiben Herr Albrecht von Bardewik zum Wohle der Stadt – to dher stades behuf.