Lübisches Recht

(Auszüge aus: Die Geschichte des lübischen Rechts im Ostseeraum bis 1350. Zugleich eine Erläuterung der Karten zur Verbreitung des lübischen Rechts, von Albrecht Cordes)

Nach der etablierten Definition von Wilhelm Ebel war das lübische (norddeutsch auch: lübsche) Recht das in zahlreichen Rechtshandschriften überlieferte Recht der Lübecker ‚Stadtrechtsfamilie‘, also das Recht von rund hundert Städten im Ostseeraum. Es ist zu unterscheiden von dem nur in Lübeck selbst geltenden ‚lübeckischen Recht‘.

Dies bestand einerseits aus Privilegien, welche die Stadt nicht einfach weiterverleihen konnte, und andererseits aus für die Stadt selbst gesetztem Recht, sog. Willküren (von wille-kore, willentlicher Wahl), die nur dann Teil auch des lübischen Rechts wurden, wenn sie Aufnahme in die Rechtshandschriften fanden. Solche Willküren haben sich übrigens auch die großen Tochterstädte wie Wismar, Rostock u. a. gegeben, und diese lokalen Regeln hatten als Partikularrecht Vorrang gegenüber dem lübischen Recht.

Die wichtigsten Charakteristika dieses gemeinen Rechts des Ostseeraums, wie man das lübische Recht vielleicht nennen darf, sind:


Der Kreis der lübischen Städte bildete einen vergleichsweise festgefügten Rechtsraum, wenn man bedenkt, dass diese Städte unter den verschiedensten Herrschaften standen. Der enge Zusammenhalt hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen: mit der Ähnlichkeit der geographischen Bedingungen, der Verfassungsverhältnisse und der sozialen Schichtung der Bevölkerung, mit dem starken Gewicht des kaufmännischen Elements in den Rechtsregeln sowie mit den strategisch eng geknüpften geschäftlichen und familiären Netzwerken der Fernhändler, deren Geschäft von gleichförmigen Rechtsverhältnissen profitierte. Dazu gehörte insbesondere auch der gut organisierte Rechtszug nach Lübeck. Nach der allgemein anerkannten Statutentheorie ging das lübische Recht dem Gemeinen Recht, also dem an den Universitäten gelehrten römisch-kanonischen Ius Commune, als spezielleres Recht (lex specialis) vor.

Wie konnte der Lübecker Rat zur höchsten Gerichtsinstanz aufsteigen? Mit der für das lübische Recht typischen prägnanten Kürze lautet die Antwort dat de ratman settet, dat scholen de ratman richten (Bardewikscher Codex, Art. 43). Die Gerichtshoheit ergab sich also aus der Rechtssetzungshoheit. Wer das Recht setze, könne sich deshalb auch in seiner Anwendung nicht irren, folgerte ein gelehrtes Gutachten um 1300, mit dem Lübecker Kanoniker Elbing in dem besagten Streit mit seinem Landesherren Beistand leisteten: Apud consules vero Lubicenses, qui iura sua mutandi, corrigendi, condendi potestatem habent, impossibilis est error – eine bemerkenswerte Aussage über den kausalen Zusammenhang zwischen Rechtssetzungs- und Rechtsprechungsmacht!


Entwicklungsphasen der Ausbreitung des lübischen Rechts

Das lübische Recht spielte über die Grenzen des Heiligen Römischen Reichs hinaus auch in Preußen und im Baltikum eine wichtige Rolle. Auch in den Hansekontoren in Nowgorod und Bergen und auch auf dem großen Heringsfangplatz in Skanör und Falsterbo konnte Lübeck zumindest teil- oder phasenweise die gerichtliche Oberhoheit durchsetzen, und die Kontorsordnungen waren zu einem guten Teil von lübischem Recht durchdrungen. In Skandinavien gab es abgesehen vom Sonderfall des Stadtrechts der deutschen Teilgemeinde in Visby (1341/44) keine Städte, die komplett nach lübischem Recht lebten, aber die wichtigen Stadtrechte von Ripen/Ribe (Strafrecht) und Stockholm (Familien- und Erbrecht) orientierten sich zumindest in einigen zentralen Rechtsbereichen an Lübeck.

In den 70 Jahren zwischen der ältesten Aufzeichnung des lübischen Rechts, dem Lübecker Fragment aus der Mitte der 1220er Jahre, und dem Bardewikschen Codex hat sich die Textmasse vervielfacht. Besonders dynamisch entwickelte sich das Recht seit dem Wechsel vom Lateinischen zum Niederdeutschen Mitte der 1260er Jahre; in den folgenden drei Jahrzehnten stieg der Umfang von 100 auf 235 Artikel.

Dieses stürmische Wachstum hat den Text wohl unübersichtlich werden lassen, und das wird einer der Gründe dafür gewesen sein, ihn 1294 systematisch neu zu ordnen. Die erste Aufzeichnung Mitte der 1220er Jahre war zusammen mit Lübecks Reichsfreiheitsbrief von 1226 wohl einer der Auslöser, dass dieses Recht in den gleichen 70 Jahren (nur die Bewidmung der Neustadt Hamburg ist einige Jahrzehnte älter) schnell in seiner jeweiligen Form überall im Ostseeraum Verbreitung fand. Neu oder kurz zuvor gegründete Städte wurden mit dem Recht Lübecks bewidmet und lebten nach den in Lübeck entwickelten Regeln, wandten sich in Streitfragen an den „Gesetzgeber“, den Lübecker Rat, als Oberhof, und eine Reihe dieser Lübecker Tochterstädte ließen sich auch ihre eigenen Handschriften mit den Vorschriften des lübischen Rechts anfertigen. Als der Bardewiksche Codex verfasst wurde, stand diese Entwicklung auf dem Höhepunkt. Nach der Wende zum 14. Jahrhundert flaute die Dynamik fast ebenso schnell wieder ab, wie sie angeschwollen war. Beim Ausbruch der Großen Pest 1350 war der Verbreitungsprozess des lübischen Rechts weitgehend abgeschlossen. Weitere Informationen zur Überlieferung finden Sie hier.


Wurzeln und Ursprünge des lübischen Rechts

Nach chronikalischer Überlieferung hatten sich die Lübecker 1181 von Heinrich dem Löwen ausbedungen, weiterhin nach Soester Recht leben zu dürfen, und sich dazu auf ältere Privilegien berufen (iustitias, quas in privilegiis scriptas habebant, secundum jura Sosatie). Die große Zahl westfälischer Zuwanderer, die sich unter anderem in vielen bekannten Lübecker Familiennamen widerspiegelt, lässt einen Einfluss aus dieser Richtung möglich erscheinen. Vermutlich trifft Wilhelm Ebels Einschätzung zu, dass der Bezug auf Soest zwar mehr als bloße Rhetorik, aber doch nur eine „recht begrenzte und kurzlebige Ausgangslage“ war. Der Rat machte von der Möglichkeit, sich aus diesen Materien zu bedienen, nur sporadisch und ganz pragmatisch dann Gebrauch, wenn es den Interessen der Stadt diente. So finden sich im Ergebnis nur Spurenelemente des römisch-kanonischen Ius commune im Lübischen Recht.

Mit dem Hamburger Recht gibt es zahlreiche inhaltliche Überschneidungen, was bei der geographischen Nähe, den zahlreichen politischen und familiären Verflechtungen und der Tatsache, dass die Hamburger Neustadt 1188 und 1232 auch ganz Hamburg mit lübischem Recht bewidmet worden war, nicht überraschen kann. Es gab aber auch bewusste und dezidierte Diskrepanzen zwischen Lübeck und Hamburg.

Für die weitaus meisten Artikel gibt es keine schriftlichen Vorbilder aus der Zeit vor 1225. Manchmal wird es sich um die Verschriftlichung älterer, bis dahin nur mündlich überlieferter Rechtsgewohnheiten handeln. Doch viele Artikel enthalten neues Recht.


Die wichtigsten Inhalte des lübischen Rechts in der neuen Systematik des Bardewikschen Codex

Der Normenbestand in den Handschriften des 13. Jahrhunderts war noch nicht fixiert. Mit zunehmendem Umfang wurden die Handschriften unübersichtlicher. Darauf reagierten die Schreiber, indem sie die Artikel durchnummerierten, Register nachtrugen und eine Art Proto-Seitenzahlen ergänzten.

Doch der städtische Kanzler Albrecht von Bardewik und sein Schreiber setzten eine noch radikalere Ordnungsidee in die Tat um: Sie stießen die gewohnte Reihenfolge der Artikel, die bis dahin mehr oder weniger zufällig aneinandergereiht worden waren, um und sortierten den gesamten Rechtsstoff neu. Inspiriert waren die Lübecker vielleicht vom 25 Jahre älteren Hamburger Ordeelbook, einem für seine Zeit modernen Gesetzbuch aus der Feder des erfahrenen Ratsherren und studierten Juristen Jordan von Boizenburg.

Die Systematisierung von 1294 war freilich noch unvollkommen und geriet nach rund drei Vierteln der Arbeit aus dem Fokus. Optisch wurde die Handschrift zunächst nur durch in den Fließtext eingefügte rote Überschriften und am Anfang der jeweils folgenden Zeile durch Initialen gegliedert, doch inhaltlich wurden zumindest die Art. 1–172 in Themengruppen eingeteilt. Man kann sie – so mein Vorschlag – in 15 Kapitel unterteilen. In den folgenden Artikeln 173–231 herrscht hingegen wieder die bunte Unordnung der älteren Handschriften, obwohl man diese knapp 60 Artikel leicht den vorangehenden Themenbereichen zuordnen kann. Die letzten 25 Artikel 232–256 sind Nachträge von späteren Händen und deshalb für die Frage der Systematik irrelevant.

Bei der Gruppierung der Artikel in Themenfelder offenbaren sich die Vorstellungen davon, welche Rechtsgebiete miteinander zusammenhingen. Den Anfang macht das FAMILIENRECHT, dann folgen ununterscheidbar ineinander verwoben ERB- UND GRUNDSTÜCKSRECHT. Geleitet werden diese beiden ersten Kapitel von dem zentralen Rechtsinstitut der were (in südlicheren deutschen Regionen oft: gewere), einer Art Familien- und Vermögensgemeinschaft, aus der Kinder meist mit der Heirat oder der Gründung eines eigenen Unternehmens ausschieden. Davon handelt gleich der erste Artikel der Handschrift. Im dritten Kapitel folgt das politische Kernstück, die RECHTSSTELLUNG DES NAHEZU ALLMÄCHTIGEN RATS, die hier allerdings nur punktuell geregelt ist. Das STRAFRECHT und – noch nicht sehr klar abgegrenzt – das PROZESSRECHT folgen. Vieles daran, bspw. die Strafe des Hängens für Diebe von einer niedrigen Wertschwelle des Diebesguts an, findet sich ähnlich auch in vielen anderen Stadtrechten, andere Regelungen tragen spezifisch Lübecker Züge. Dazu gehören die oben zitierten Artikel zur Regelung des Rechtszugs an den Lübecker Rat als Oberhof. Mitten im Strafrecht steht der bemerkenswerte FREIBRIEF FÜR ALLE LÜBECKER, die sich außerhalb der Stadt auf Diebesjagd begeben und die Beute mit Rat und Stadt teilen. Das werden Lübecks Feinde als Aufforderung zu Straßenräuberei und Piraterie aufgefasst haben. Typisch für das Recht der durch Handel reich gewordenen Travestadt waren das SEEHANDELSRECHT und überhaupt das ganze KAUFMANNSRECHT mit Gegenständen wie dem Gesellschaftsrecht und dem Viehkauf. Hierher gehört auch das RECHT DER SICHERHEITEN, also der Bürgschaft und – besonders breit geregelt – des Pfandrechts, mit denen sich das für den Handel nötige Kapital finanzieren ließ. Es folgen kürzere Kapitel, die zum Teil an die größeren Eingangsteile anknüpfen und die man dort hätte integrieren können (TESTAMENTE, ZEUGENBEWEIS, FÄLSCHUNGEN, KÖRPERVERLETZUNGEN). Der geordnete Teil des Codex endet mit einem originellen Abschnitt über NACHBARSCHAFTSRECHT und Wegesicherungspflichten (Art. 162–172). Dort wird etwa die Schadensersatzpflicht eines Hauseigentümers geregelt, der den Gehsteig vor seinem Haus nicht gesichert hat und so die Verletzung eines Pferdes verursacht. Danach folgen der ungeordnete Teil des ursprünglichen, noch von der ersten Schreiberhand aufgeschriebenen Texts (Art. 173–231) sowie die aus vielen kleinen Textschichten bestehenden Nachträge (Art. 232–256).

Der Codex kann nicht allein dem Privatrecht und der Privatrechtsgeschichte zugeordnet werden. Vielmehr finden sich neben privatrechtlichen auch straf-, verfassungs- und verwaltungsrechtliche Normen, wenn man dem Codex überhaupt diese modernen Kategorien aufzwingen will. Dabei wird alles ständig von Prozessrecht – und zwar ganz besonders vom Beweisrecht – durchdrungen.