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Kautzsch, Rudolf
Einleitende Erörterungen zu einer Geschichte der deutschen Handschriftenillustration im späteren Mittelalter (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 3) — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Heft 3: Straßburg, 1894

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https://doi.org/10.11588/diglit.2061#0013
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— 15 —

Wir werden also diesen einseitigen Fortschritt auf eine Forderung
von seiten der Kunst selbst zurückzuführen neigen.

Mehrfach ist ausgesprochen worden, wie sich die neuen Er
ungenschaften zuerst und am lebendigsten in den Bildern zu der
neuen Litteratur jener Zeit offenbaren. Eine Fülle neuer Stoffe
drängte zur Verkörperung. Für sie stand weder ein Schema
rest, noch waren ihrer so wenige, so wohlbekannte, dass das
blosse Beisammensein bestimmter Personen und einiger Symbole
sofort den dargestellten Gegenstand hätte errathen lassen. So war
es vordem gewesen: drei bis vier männliche nimbirte Gestalten
links, davon eine mit ausgestrecktem Arm nach rechts vortretend,
zu ihren Füssen zwei knieende Frauen, ganz rechts ein Thurm,
davor eine von den Zehen bis zum Hals festumschnürte Mumie
stehend : Das genügte, um jedermann sofort die Aufer weckung
des Lazarus ins Gedächtniss zu rufen. Anders jetzt. Wenn
ein begabter Zeichner nun die Eneide, Konrad von Scheiem die
Theophiluslegende illustrirte, wie sollten sie auf Verständniss
zählen, wenn nicht sorgfältiger berechnete Anordnung, lebendigere
Bewegung und Affectäusserung das blosse Nebeneinander der Ge-
stalten zur handelnden Gruppe erhob, die Scene psychologisch er-
läuterte ?

Aber noch mehr: ob es einem allgemeinen Gesetz entspricht,
dass erst das Seelenleben, dann die Aussenwelt entdeckt wird
das wage ich hier weder zu bejahen, noch zu verneinen. Zweifel-
los dagegen ist, dass die deutsche Dichtung des beginnenden
l3. Jahrhunderts eine Kenntniss der Seele verräth, die uns über-
rascht. Nun scheint doch nur natürlich, ja unumgänglich not-
wendig, dass ein Künstler, der die Helden der neuen Dichtung
darstellen wollte, ihren Schmerz und ihre Freude ebenfalls aus-
drückte. Die Leidenschaften gehören so gut zu diesen Menschen
wie ihre Rüstung. Ohne sie waren sie nicht das, was sie sein
sollten.

Endlich dürfen wir sagen, dass, wie eben die Litteratur uns
zeigt, die ganze Zeit besonderes Wohlgefallen an der psycholo-
gischen Seite der Geschehnisse hatte. Also forderte die Phantasie
auch von der bildlichen Darstellung Anregung zur lebendigen
Nachdichtung des Seelenlebens der Helden und Heldinnen.

Dass der Künstler fähig war, die Ausdrucksbewegungen
 
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