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Kautzsch, Rudolf
Einleitende Erörterungen zu einer Geschichte der deutschen Handschriftenillustration im späteren Mittelalter (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 3) — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Heft 3: Straßburg, 1894

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https://doi.org/10.11588/diglit.2061#0046
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Querschnitt vorgeführt. Durch das offene Fenster aber blicken
wir hinaus in die lachende Landschaft.

Die Wandlung estreckt sich auch auf die Person : bildniss-
artige Lebendigkeit des individuellen Kopfes 1 wird dem einzel-
nen, völlige Lockerung der Gruppe zu theil: das Uebereinander-
treten hört ganz auf. Die Menschen rücken mehr in die Tiefe
der Landschaft, sie werden ihr als nicht mehr ausschliesslich be-
rechtigter Bestandtheil eingeordnet. Ja die Landschaft gewinnt
selbständigen Charakter. Bis zu fernen blauen Hügeln und Berg-
ketten schweift der Blick über Seen, Städte und Auen. Und
über dem freundlichen Bild wölbt sich der blaue Himmel, duftig
verblassend gegen den Horizont.

Es ist eine alles umfassende, weitgehende Umgestaltung. Vor-
dem Symbol, jetzt Abbild, vordem Bildersprache, jetzt täuschen-
der Schein.

Ein solcher Wechsel vollzieht sich natürlich nicht auf
einen Schlag. Immerhin ist erstaunlich, wie rasch das Neue durch-
dringt. Seit etwa 1410 begegnen deutliche Anzeichen einer ver-
änderten Grundanschauung. Und 1450 ist bereits der Umschwung
vollendet. Selbstverständlich sind perspectivische Mängel im ein-
zelnen noch überaus zahlreich, werden überhaupt das ganze 15.
Jahrhundert hindurch nie ganz überwunden. Aber sie haben doch
nichts zu thun mit jenen scheinbaren Unvollkommenheiten, die
aus ganz anderer Wurzel, als aus mangelhafter Schulung des
Auges entsprangen.

Nun erhebt sich die gewichtige Frage: woherstammtdie Neuerung?

Wir brauchen uns nicht mehr mit der Antwort aufzuhalten,
die man vordem sofort auf unsere Frage gegeben hätte. Dass
die Gebrüder van Eyck den modernen Realismus „entdeckt"
haben, wird im Ernst nicht mehr behauptet. Ein grundsätzlich
verändertes Verhältniss zur Welt wird von niemandem entdeckt.
Und dass jene Meister diesem veränderten Verhältniss zuerst
Ausdruck im Bilde verliehen, können wir auch nicht mehr sagen,
seit wir die Miniaturen französischer und burgundischer Hss. vor
1400 kennen.

1 D. h. es werden nicht mehr nur Typen des Alters und der Stande,
sondern jeder Kopf von jedem anderen unterschieden.
 
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