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Verein für Badische Ortsbeschreibung [Hrsg.]
Badenia oder das badische Land und Volk: eine Zeitschr. zur Verbreitung d. histor., topograph. u. statist. Kenntniß d. Großherzogthums ; eine Zeitschrift des Vereines für Badische Ortsbeschreibung — 3.1844

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Eine Wanderung durch die Landschaft Ortenau
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https://doi.org/10.11588/diglit.22585#0293
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Landschaft. Hat der Wanderer nun das Städtchen verlassen und folgt
der schönen Straße über dem Rande des Thalrains, so gewahrt er
jenseits der hohen Weidengebüsche, am Fuße des Homberg, mitten
auf der lieblichsten — hier von der Wutach und dort vom Walde
umschlossenen Wiesenau, eineu langen, einsam in die Höhe ragenden
grauen Stein. Derselbe gleichet völlig dem Trümmermale eines
Thurmes, und kein Fremder wird glauben, daß er nickt etwas der-
gleichen sey. Es hat ihn aber keine menschliche Hand, sondern die
Natur dahin gestellt; denn von den Nagelflühfelsen, welche sich hier an
das Kalkgebirg anschließen, hat ihn die wilde, untergrabende und aus-
waschende Wutach allein noch übrig gelassen — wie zum ewigen
Denkzeichen ihres Kampfes mit dem Widerstande des Homberg.
Hundert und Hunderte der Umwohner denken nichts, wenn sie den
Stein erblicken, er ist ihnen eine gewöhnte, gleichgiltige Erscheinung;
in Thiengen aber entwachset kein Knabe, kein Mädchen seiner Wiege,
ohne vom langen Stein zu hören. Er ist ein geheimnißvoller Wunder-
fels für die dortige Jugendwelt. Aus seiuem verborgenen Schoße holt
die Amme in stiller Nacht die neugeborenen Kinder hervor, und in
seine ewige Finsterniß werden die bösen wieder verschlossen. Doch auch
unter deu Erwachsenen erzählt man sich zuweilen Etwas von dem son-
derbaren Stein — wie die alten sulzischen Grasen vom Altanenzimmer
des Schlosses aus mit ihren messingenen Standrohren auf die Scheibe
nach ihm geschossen, oder wie noch früher das heimliche Gericht um
ihn her gehalten worden.
Das heimliche Gericht — welche Ironie der dunkeln Volkssage!
Ja, der alte graue Stein sah einst Gericht halten; er sah die Richter
sitzen an seinem Fuße und das Volk um sie versammelt, aufl offener
Wiese, unter freiem Himmel. Da aber kam eine Zeit, wo die Richter
sich aus der gesunden Lnft in die verdumpfte einer Kanzlei zurückzogen,
und aus dem freien, öffentlichen Gericht ward ein geheimes, verschlos-
senes! In dieser traurigen Zeit verlernte das Volk sein Recht, und
war sofort jeglicher Beeinträchtigung, jeglicher Anmaßung und Unter-
drückung rath- und hilflos preisgegeben. Denn wann etwa wurde
die zahlreiche Klasse persönlich freier Zinsbauern, die Menge der soge-
nannten Hörigen vollends unter das Joch der Leibeigenschaft gebeugt?
Wann etwa büßten die Gemeinden ihr Waldeigenthum ein? Wann
kamen die verdoppelten und verdreifachten Steuern und Bußen auf?
Wann umzingelte und durchwühlte eine maßlose Amtspolizei alle Ge-
meinde- und Familienverhältnisse? Mit einem Worte, wann wurde
 
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