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Alt, Kurt W.; Vach, Werner; Universität Basel / Seminar für Ur- und Frühgeschichte / Jüngere und Provinzialrömische Abteilung [Contr.]
Basler Hefte zur Archäologie (Band 3): Verwandtschaftsanalyse im alemannischen Gräberfeld von Kirchheim, Ries — Basel: Archäologie-Verlag, 2004

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2 Grundlagen der Verwandtschaftsanalyse an Skelettmaterial
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https://doi.org/10.11588/diglit.68088#0039
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Grundlagen der Verwandtschaftsanalyse an Skelettmaterial

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Grundlagen der Verwandtschaftsanalyse an Skelettmaterial

2
2.1 Zum Begriff der Verwandtschaft in der
osteologischen Verwandtschaftsanalyse
Die Herausarbeitung biologischer Verwandtschaftsver-
hältnisse in früheren Siedlungsgemeinschaften erfolgt
durch eine sogenannte Binnenanalyse, deren Substrat
die jeweilige Lokalbevölkerung bildet. Nach Befundung
geeigneter Merkmale an allen Individuen eines Bestattungs-
platzes erfolgt eine vergleichende Beurteilung ihrer
Ähnlichkeit bzw. Übereinstimmung in selteneren,
genetisch determinierten Merkmalen. Bei positivem
Befund können daraus biologische Beziehungen unter
den Individuen bzw. familiäre Zugehörigkeiten abgeleitet
werden. Zusammen mit demographischen und archäo-
logischen Befunden sowie kultur- und sozialanthro-
pologischen Erkenntnissen lassen sich damit, je nach der
Qualität und Quantität der anthropologischen und
archäologischen Daten, die sozialen Strukturen in Lokal-
bevölkerungen mehr oder weniger valide rekonstruieren.
Unter dem Begriff der Verwandtschaft wird im Kontext
der hier vorgenommenen morphologischen Ähnlichkeits-
analyse konkret die Familienverwandtschaft verstanden,
d.h. eine Gemeinsamkeit im Erbgut in Folge gemeinsamer
Abstammung. Allerdings ist der Begriff der Familie, wie
er gewöhnlich verwendet wird, notwendigerweise unscharf.
Etliche Familienkonzepte stützen sich auf die Feststellung,
dass die gesellschaftlich bestimmenden Kräfte bis ins
Mittelalter hinein durch biologisch determinierte Fami-
lienbeziehungen bestimmt wurden (Alt 1991; Steuer 1982).
Moderne Vergleiche sind durch Beobachtungen in
rezenten Naturvölkern möglich, wo die Verwandtschafts-
beziehungen «in kleinen, noch wenig gegliederten Gesellschaften
praktisch die einzige, oder wesentliche soziale Gliederung
ausmachen» (Thiel 1983, 79). Wenngleich vom ver-
wandtschaftsethnologischen Standpunkt aus der Kern-
familie dabei die zentrale Bedeutung zukommt, geht diese
doch in der Regel in grösseren Gebilden (Grossfamilie
bzw. erweiterte Familie \jointfamily], Klan, Lineage, Sippe
etc.) auf (Fischer 1983; Thiel 1983). Die Begriffe sind sehr
vorsichtig anzuwenden, da sie von vielen Autoren
unterschiedlich gebraucht werden. Im Wesentlichen ist
dabei zu klären, ob man eine bestimmte Gruppierung
als Residenzeinheit im Sinne einer Produktions- und
Konsumgemeinschaft, eine Sozialeinheit oder eine
solidarische Gemeinschaft unilinearer Verwandter, die
sich genealogisch von einem gemeinsamen Ahnen ableiten,
versteht.

Es ist hinreichend bekannt, dass ein deutlicher Unter-
schied zwischen der „Familie“ als Sozialverband und der
„Familie“ als Gruppe genetisch verwandter Individuen
besteht So gehören z.B. zur (erweiterten) römischen Haus-
und Wohngemeinschaft nicht nur konsanguine (genetisch
verwandte) Mitglieder, sondern, aus sozialer Zuweisung,
auch Gesinde, Gefangene, affinale Verwandte u.a.. Bei
der osteologischen Verwandtschaftsanalyse aber müssen
„Familien“ als Gruppen genetisch verwandter Individuen
angesprochen werden. Dennoch darf das Zusammenspiel
zwischen „Familie“ und Sozialverband nicht vernachlässigt
werden, weil dadurch das Erscheinungsbild der Familie
im Gräberfeld teilweise bestimmt wird (Exogamie-, und
Residenzvorschriften, geschlechtsspezifische Regeln, u.a.);
dieses gilt es zu interpretieren. Aufgrund dieser
Ausgangssituation ist zu erwarten, dass man in grösseren
Lokalpopulationen eher nur die Kerne derartiger Gruppen
findet, bei denen familientypische Merkmale deutlich
ausgeprägt sind. Im Hinblick auf eventuelle Selektions-
mechanismen bleibt zu beachten, dass ein guter skelettaler
Erhaltungszustand die Wahrscheinlichkeit, dass ein Indivi-
duum einer Familie zugeordnet werden kann, entschei-
dend erhöht.
Die eigentliche Verwandtschaftsanalyse erfolgt über einen
Ähnlichkeitsvergleich geeigneter Merkmale (anatomische
Varianten und Anomalien an Schädel, Kiefer und Zähnen)
(Alt 1996). Für die überwiegende Mehrzahl der dabei
untersuchten Merkmale sind keine Erbgänge bekannt.
Fest steht nur, dass diese Merkmale im wesentlichen unter
Beteiligung von Erbfaktoren zur Ausprägung gelangen.
Deshalb stellt die Ähnlichkeitsanalyse an Skelettmaterial
keine echte genetische Untersuchung dar; es lassen sich
nur phänotypische Ähnlichkeiten zwischen den Indivi-
duen ermitteln bzw. abschätzen. Der Rückschluss von
Ähnlichkeit auf Verwandtschaft bedeutet ausserdem, dass
aus dem Grad der phänotypischen Ähnlichkeit nur auf
einen gewissen Anteil gemeinsamen Erbgutes, also auf
genetische Verwandtschaft, nicht aber auf ein spezifisches
(Verwandtschafts-) Verhältnis, d.h. auf die Art der erb-
lichen Beziehungen (Verwandtschaftsgrad) geschlossen
werden kann (wie etwa bei direkter Verwandtschaft, z.B.
der Eltern-Kind-Verbindung) (Knußmann 1988). In
Anlehnung an die Vaterschaftsbegutachtung ist zu
bedenken, dass sich aus dem Grad der Ähnlichkeit der
prozentuale Anteil gemeinsamen Erbgutes allenfalls grob
schätzen lässt. Nur in seltenen Fällen, wie bei patholo-
gischen Merkmalen mit bekanntem Erbgang oder
 
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