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seinem Figurenstil, nicht von Campin abhängig ist — und vor allem von seinen Frühwerken gilt dies —
Hegt es, wie gesagt, nahe, für beide Maler einen gemeinsamen Ausgangspunkt in Burgund zu vermuten.
Der spätere Campin scheint, was er in diesem Bilde, das dem Stil seiner Figuren nach ein Werk der
frühesten 1420er Jahre sein muß, vermocht hat, wenigstens was das Landschaftliche betrifft, völlig wieder
verlernt und vergessen zu haben. Die Landschaftshintergründe und Landschaftsausschnitte seiner übrigen
Bilder sind vollkommen anders, trockener, nüchterner, ohne auch nur einen Ansatz zu dem, was der
Dijoner Landschaft ihre einzigartige Stimmung verleiht. Da sie auch unter sich wenig stileinheitlich
sind, fragt man sich unwillkürlich, ob sie wirklich alle der gleiche Meister gemalt hat. Sind die Fenster-
durchblicke der beiden Madrider Werlaltarflügel von 1438 (Abb.8,9) nicht z.B. von Rogier van derWeyden
gemalt, mit dessen Landschaft in dem Leipziger Heimsuchungsbilde (Abb. 28-30) sie wirklich, so wie es die
Tafeln des Rendersschen Buches demonstrieren wollen22, bis ins einzelne die gleiche Malweise zeigen ? Wie
dem auch sei, die Dijoner Landschaft bleibt eine Sondererscheinung, die man sich doch wohl aus einer ein-
mahgen Berührung mitFremdem wird zu erklären haben. Vielleicht daß Campin damals die Begegnung mit
einem großen, auch ihn selbst überragenden malerischen Genius erfuhr, von dem wir nichts mehr besitzen.
Versucht man diese Hypothese weiterzudenken, so ist es wahrscheinlich, daß diese Begegnung über-
haupt einen Wendepunkt auf Campins künstlerischem Wege bedeutet hat. Vielleicht war sie es, die ihm
den Sinn für die plastische Körperlichkeit von Gestalten und Dingen, für die Undurchdringlichkeit ihrer
Oberflächen zumindest gestärkt hat. Wahrscheinlich hat auch sie erst seinen Sinn für das eigentümliche
Leben des Lichtes geweckt, für das Spiel dieses Lichtes mit den Schlagschatten werfenden Kleinformen, viel-
leicht auch seine Vorliebe für Stoffliches, für das Stilleben, die Intimität des Kleinen, sei es metallenes Gerät,
irdenes Gefäß, geblättertes Papier, gefälteltes Tuch, geflochtenes Stroh oder geschnitztes und gezimmertes
Holz. Diese Freude an Licht und Schatten und am Materiellen bleibt bei Campin immer eine Freude am
Einzeleffekt, am besonderen Oberflächenphänomen, sie dringt nicht wie bei Jan van Eyck auf das Ganze und
in die Tiefe. Sie ist daher in seinem Schaffen wahrscheinlich auch nicht ursprünglich gewesen. In dem frühen,
farbig einfach bunten Seilerntriptychon und in den Kopien der Apsismadonna ist davon noch kaum etwas fest-
zustellen, und wer nach noch früheren Werken des Meisters auf die Suche gehen will, wird sich wahr-
scheinlich von allen jenen Vorstellungen, die uns die Bilder aus den zwanziger und dreißiger Jahren von
seiner Kunst geben, freimachen müssen.
Campin gehörte, wie wir zu zeigen versuchten, nicht oder nur in einem sehr eingeschränkten Sinne zu
den großen künstlerischen Entdeckern der neuen burgundisch-niederländischen Malerei. Er, der diesen
gegenüber wahrscheinlich der weitaus Ältere war, verstand, von den jüngeren Meistern zu lernen, weil
er bis in sein hohes Alter auf die erstaunlichste Weise für Neues empfänglich war. Dieses Neue übernahm
er jedoch niemals sklavisch und wahllos, sondern er prägte es um in ein Eigenes. Was bei anderen Schwäche
bedeutet hätte, ist in seiner Kunst zu wirklicher Stärke geworden. Der Wetteifer mit den Jüngeren riß
ihn empor, steigerte sein Schaffen zu Leistungen, die sich den ihren auch in der unverwechselbaren per-
sönlichen Einmaligkeit des Stiles manchmal ebenbürtig an die Seite stellen. Er war ganz und gar keine
ursprüngliche und primitive, sondern eine differenzierte Natur, gerade in seiner Aufnahmebereitschaft
und seiner Fähigkeit, Fremdes der eigenen Kunst einzuschmelzen. Diese Fähigkeit ist in ihm schöpferisch
gewesen und ragt hart an die Grenze wirklicher künstlerischer Größe empor.
Wenn Rogier van der Weyden, ohne Zweifel der Genialere der beiden, fünf Jahre lang und bereits als
reifer Mann in die Lehre gegangen ist bei diesem Meister, der selber in so hohem Grade zu lernen begierig
war, so war es wohl unausweichlich, daß nicht nur der Ältere auf den Jüngeren, sondern auch der Jün-
gere auf den Älteren anregend wirkte.

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