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ist ferner die geheime Tektonik der Formen in ihrer Beziehung zur Fläche, wie das Bild sich von unten,
von der Basis der Hände aufbaut, wobei wichtig ist, wie auch weiter oben die Horizontalen des Mundes,
der Augen wesentliche Markierungen nicht nur —was selbstverständlich ist —der Gesichts-, sondern zugleich
der gesamten Bildfläche sind. Durch diese geheime Tektonik zumal unterscheidet sich dieses Porträt von den
Bildnissen Campins.
Das Antlitz ist von einem bemerkenswert wachen, gespannten Ausdruck, der namentlich durch den Blick
der weitgeöffneten Augen zustande kommt. Indem die Pupillen nahe dem oberen Augenlid stehen und
namentlich die rechte Augenbraue sich hoch in die Stirn wölbt, ist der Blick etwas nach oben gerichtet. Bei
Campin hat das Blicken niemals diese primäre Bedeutung, den älteren Meister interessiert in seinen Bild-
nissen mehr das plastische Phänomen des Augapfels und seiner Umgebung. Der feiste Kopf des sogenannten
Robert de Masmimes im Berliner Museum (Abb. 11) ist hierfür das bezeichnendste Beispiel.
Am lebendigsten wirkt das Bücken dort, wo es ein Unsanblicken ist, so daß zwischen dem im Bildnis
Dargestellten und uns eine Blickbegegnung zustande kommt. Dieses Unsanblicken aus dem Bilde her-
aus, das den Ausdruck in einzigartiger Weise aktiviert, begegnet zuerst in florentinischer Malerei, namentlich
im Werke des Masaccio, fast gleichzeitig dann aber auch im Norden. Wenn die trachten geschichtlich
zu stützende Vermutung richtig ist, daß das bekannte Berliner Bildnis des Mannes mit der Nelke, das
fälschlich als ein Werk Jan van Eycks gilt, schon um die Mitte der 1420er Jahre entstand, so wäre dieses
das früheste niederländische Beispiel28. Bei Jan van Eyck findet sich das Motiv in dem sogenannten Selbst-
bildnis unter den Gerechten Richtern des Genter Altares und in dem 1433 datierten Londoner Porträt
des Mannes mit dem Turban. Bei Rogier muß eines der Brüsseler Rathausbilder von 1439 in besonders
auffälliger Weise ein solches, den Beschauer anblickendes Antlitz gezeigt haben, wahrscheinlich ein Selbst-
bildnis des Malers. Nikolaus von Cues beruft sich darauf und führt noch drei weitere Beispiele an29.
Durch den Hinweis auf solche »subtili arte pictoria« gemalten Gesichter veranschaulicht der große spät-
mittelalterliche Denker die eigentümliche Natur des göttlichen Sehens, der Visio Dei. Genau wie der
Blick einer solchen Malerei uns begleite, auf welchen Platz vor dem Bilde auch immer wir uns aufstellen
mögen, derart, daß jeder glaube, er werde allein angeblickt, so verlasse auch das alles und jedes im Blick
behaltene Sehen Gottes niemals den Menschen, solange dessen eignes Betrachten Gott zugekehrt sei.
»Nichts anderes ist Dein Sehen, als daß Du den Dich Sehenden ansiehst.« Dieses Allsehen Gottes aber,
das auch von dem sich von ihm Abwendenden nicht lasse, sei zugleich auch sein Allerbarmen, sein Alles-
bewegen und -wirken. Die Vorstellung, daß Gott den Menschen Auge in Auge sehe, d. h. seiner allsei-
tigen und zentralen Blickbeziehung auf das menschliche Gegenüber, ist, geistesgeschichtlich betrachtet,
bereits renaissancehaft und nicht mehr mittelalterlich. Und renaissancehaft ist auch in der Malerei das
Motiv der figura cuncta videntis, des alles auf sich beziehenden menschlichen Auges, in welchem sich ähnlich
wie in der neuen zentralperspektivischen Bildkonstruktion ein ganz neues Verhältnis auch zwischen dem
Menschen und der nunmehr einheitlich zum Objekt gewordenen Gegenüberwelt offenbart30.
Bei Rogier zeigen das neue Blickmotiv zuerst die — freilich nicht eigenhändig gemalte — Stifterin des
linken Turiner Flügels der Louvreverkündigung (Abb. 23) und vor allem das ungefähr gleichzeitige,
aber ungleich bedeutendere Bildnis einer jungen Frau im Berliner Museum (Titelbild). Das Berliner
Bild ist wohl das schönste Frauenporträt der gesamten altniederländischen Malerei, nie hat auch
Rogier selber wieder etwas so Lebendig-Unmittelbares gemalt. Breit eingefaßt von den die Stirn über-
querenden und breit auf die Schultern fallenden Schleiertüchern der modischen Hörnerhaube blickt
uns ein jugendlich schwellendes Antlitz von frischer, gesunder Farbe entgegen. Die großen Weißflächen
des Kopftuches gewähren dem Haupte eine mächtige Rahmung, die fast quadratisch breit in der oberen
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