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greifen parallel und umfassen mit der Gegenübergestalt zugleich auch den Raum. Fühlbarer noch als die-
ser formale ist der Unterschied des seelischen Ausdrucks. Wieviel tiefer ist der verstummte ohnmächtige
Schmerz der Mutter bei dem jüngeren Meister, dort wo Campin laut und drastisch wirken zu müssen
meint! Oder man vergleiche die Hände! Rogier zeigt nur die sehr beseelten Finger der das Kreuz betasten-
den Linken, während man bei Campin, was zweifellos ein Zuviel ist, alle zehn Finger sieht, in seltsamer
Verkreuzung der Arme ins Leere tastend und damit auch jedes tieferen Ausdrucks entleert.
An der erst jetzt gewonnenen künstlerischen und menschlichen Reife des jüngeren Meisters mag man
rückblickend auch noch einmal dessen eigene frühere Werke prüfen, die auf dem Wege zu dieser Reife
gelegen. Man mag sich auch fragen, ob andere Kreuzigungsdarstellungen, die man Rogier hat zuschreiben
wollen, auf diesem Wege denkbar sind oder nicht. Wir haben hier ein etwas größeres und jedenfalls auch
älteres Kreuzigungstriptychon imAuge, das in den 1930er Jahren als ein Werk Rogiers veröffentlicht wurde,
den heute der Sammlung Abegg in Zürich gehörenden sogenannten Turiner Altar (Abb. 115-117). Daß
dieses Werk in allen Formen und Motiven von Rogier herkommt, ohne ihn undenkbar ist, ist ohne Zweifel.
Kann aber ein solcher Taumel von Klagegebärden, soviel leere und haltlose Gestikulation je auf der Linie
eines Meisters gelegen haben, dessen Schaffen so von Anfang an auf das Maßvolle zielte ? Wir werfen die
Frage auf, ohne — mangels Kenntnis des Originales — eine endgültige Antwort zu wagen36.
In dem Wiener Altärchen gibt es weder äußere Aufgeregtheit noch leere Gleichgültigkeit. Hier herrscht
das Maß. Aber dieses Maß ist kein Gleichmaß. Der Ausdruck ist abgestuft von stärkster Erregung bis zum
unbeteiligten und dennoch seelisch erfüllten Nur-Dabeisein. Den äußerlich und innerlich stark bewegten
Gestalten auf der einen Seite des Kreuzes ordnen sich auf der anderen die der ruhig knienden Stifter zu.
Auch hier blickt der Mann empor; aber er tut es in scheuer Andacht, während die Gattin den Blick senkt.
Dem Emporblicken entspricht auch das Beten mit emporgerichteten Händen, während die der Begleiterin
in minder angespannter Haltung in Gürtelhöhe gefaltet sind. In dieser konventionellen Gestalt einer
Beterin verebbt die in der Johannes gestalt so leidenschaftlich anhebende Peripetie der Ausdrucksbewegung.
Eine wehmütig-stille Umfassung des innerlich so bewegten Geschehens im Mittelbilde geben die beiden
weiblichen Heiligen der Flügel. Die seelisch ergriffenere ist auch hier auf der linken Seite: Magdalena, ein-
gehüllt in ihr Manteltuch, das sie mit der Linken zum Auge führt, ihre Tränen zu trocknen. Diese ganz
in ihrem Schmerz versunkene Figur geht auf die der trauernden Maria in einem Bilde Hubert van
Eycks, der kleinen Kreuzigungstafel des Berliner Museums, zurück. Auch die Veronika des anderen Flügels
hängt vielleicht ähnlich mit einem fremden Vorbild zusammen. An eine Figur etwa aus einem verlorenen
Werke des Stephan Lochner ließe sich denken. Der Anschluß an diese altertümlicheren Maler erklärt wohl
am ehesten die bei Rogier sonst ganz ungewöhnliche Formenglätte und Formenweichheit der beiden
Gestalten.
Etwas von dieser befremdlichen Glätte hat auch die Landschaft, schon indem sie ganz jener feinbeweg-
ten Kleinvegetation der Kräuter und Blumen entbehrt, mit der der Maler sonst die Vordergründe seiner
Bilder so liebevoll ausstattet und die gelegentlich sogar durch die engen Ritzen einer Steinpflasterung hin-
durchwachsen darf (Abb. 52, 57). Solcher Verzicht auf intime Kleinform erklärt sich wohl daraus, daß Rogier
in dieser Landschaft in neuer Weise die der Weiträumigkeit des Ganzen angemessene große Form gesucht
hat. Was den Hintergründen der älteren Bilder, auch so kostbarer wie der Leipziger Heimsuchung
(Abb. 28), vielleicht noch von allzu ängstlicher und peinlicher Genauigkeit anhaftete, ist jetzt abgestreift
worden. Die dünnen, schmalstämmigen Bäumchen, die etwas monotonen Baumreihen gewisser früher
Bilder sind volleren und lockeren Baumgruppen und Büschen gewichen, und mächtiger steht im Bild-
raum nunmehr auch die Architektur: das Stadtbild mit seinen Türmen, Toren und Häusern. Die Stufung
 
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