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Heft 18. *
Trunk angewöhnt und war immer mehr zurücgefom-
men, Er befaß ein Meines Grundstück, welches indeſſen
Jehr verfchuldet var. Da verkaufte er Ddafjelbe. und
als er noch eine geringe Summe herauz bekam, ging
er mit derſelben nach Amerika. Es war einige Jahre
zuvor ein Bekannter von ihm dorthin gegangen, dem
es dort geglückt war, er hoffte daſſelbe; es ſcheint ihm
indeſſen nicht ſo gut ergangen zu ſein, ſonſt hätte er
ſicherlich von ſich hören laſſen.“

„Ging er allein nach Amerika?“

„Nein, ich hatte einen älteren Bruder — er war
damals ſechszehn Jahre — den nahm er mit ſich.“

„Ihr habt Euren Bruder gekannt?“

„Ich habe nur noch eine dunkle Erinnerung an
ihn und weiß nur, daß er meiner Mutter viel Sorgen
machte, da er meinem Vater nachartete und zur Arbeit
wenig Luſt hatte.“

„Habt Ihr von dem Bruder nie wieder etwas
gehört?“

„Nie.“

Renno ging eine Zeit lang ſchweigend dahin. Seine
Bruſt holte tiefer und ſchwerer Athem, der Weg ſchien
ihn zu ermüden. Er ſtand ſogar einige Male ſtill,
um ſich zu erholen.

„Ich habe Euch heute die Forderung eines höheren
Lohnes abgeſchlagen,“ ſprach er dann. „Euch will
ich dieſelbe gewähren, Ihr könnt bei mir weiler ar—
beiten.“

„Ich kann es nicht,“ gab Carlſen zur Antwort.

„Und weshalb nicht?“

„Meine Kameraden würden mich für einen VBer-
räther halten, ſchon geſtern Abend iſt nyy der Vor-
wurf gemacht worden.“

„Ihr wißt ja, daß Ihr es nicht ſeid.“

„Ich will auch nicht, daß der Scheu mich trifft.“

m Ihr bereits andere Arbeit gefunden?“

„Nein.“

„Und dohH wollt Ihr mein Anerbieten nicht an-
nehmen? Glaubt Ihr, Eure Kameraden würden Einen
Groſchen für Euch geben, wenn es Euch ſchlecht er—
ginge? Was kümmert Euch ein Verdacht, von dem
Ihr am beſten wißt, daß er unbegründet iſt? Geht
Euren eigenen Weg und kümmert Euch nicht um
Andere! Ich bin älter als Ihr und habe reichere
Erfahrungen, wer ſich um die Intereſſen Anderer
kümmert, verliert die eigenen aus den Augen und
fonımt wenig weiter. Denkt nicht an Andere, ſondern
an Euch ſelbſt.“

Carlſen ſchwieg und ſchien zu überlegen. Es klang
Wahrheit aus Renno's Worten, und doch konnte er
ihnen nicht beiſtimmen.

„Ich kann Ihr Anerbieten nicht annehmen,“ ent—
gegnete er.

Renno ſtand ſtill, die Weigerung des Mannes
ärgerie ihn; Jollte fein Wille an dem Eigenfinne des:
ſelben ſcheitern?

„Ihr ſeid ein Thor!“ rief er. „Nun, ich werde
Euch die Stelle eines Aufſehers geben, Ihr braucht
dann weniger zu arbeiten und verdient mehr als drei⸗
mal ſoviel wie bicher.“

Carlſen ſchwieg.

„Iſt Euch dies noch nicht genug? Ihr ſcheint Eure
Anſprüche ſehr hoch geſtellt zu haben.“ 7

„Nein, das iſt es nicht,“ gab Carlſen zur Antwort,

„Ihr habt mir geſagt, daß Eure alte Mutter bei
Euch wohne,“ fuhr Renno fort. „Iſt es Euch gleichgiltig,
ob Ihr derſelben ein angenehmeres und leichteres Leben
bereitet? Was kümmert es Euch, wie Andere über
Euch denken, wenn Ihr Euch ohne Schuld fühlt!
Haben fie einen Verdacht auf Euch geworfen, ſo wer⸗
den fie doch an demſelben feſthalten!“

Renno hatte den Punkt berührt, durch welchen
Carlſen am leichteſten zu bewegen war — die Liebe
zu ſeiner Mutter. Sein Herz hing an der alten Frau,
die ſo wenig ſonnige Tage in ihrem Leben gehabt
hatte.

„Ich nehme Ihr Anerbieten an,“ erwiederte er.

„Gut, dann kommt morgen früh zu mir, Ihr
könnt ſofort Eure neue Stellung antreten,“ ſprach
Renno.

„Wollen Sie nicht auch die übrigen Arbeiter wie—
der annehmen?“ fragte Carlſen.

„Nein.“

„Sie werden für den bisherigen Lohn weiter ar-
beiten.“


frieden fein würden, jo werden fie nie wieder Arbeit
bei mir befonımen. Ih bin nicht gewöhnt, mir Vor-
fchriften machen zu Iafjen, ohnehin habe ich bereits
Sorge getragen, daß mir in wenigen Tagen hinreichend
Arbeiter zur Verfügung fliehen.“

Caxlſen ſchwieg.

Sie hatten den Wald erreicht und ſchritten ſtill
neben einander. Das alte Jagdſchloß war nicht
mehr fern.

„So, nun fehrt zurück, hier habe id nicht? mehr







Das Bug für Alte


tdum und auf einen Ruf von mir würden meine Die-
ner in wenigen Minuten zur Stelle fein. Ihr habt
mir einen Dienft geleiftet urd ich bin nicht gewöhnt,
einen jolchen umfonft anzunehmen. Hier!“

Er reichte Carlien ein Geldftück,

Carlſen zögerte. e& anzunehmen.

„Ih habe e8& nicht deshalb gethan,“ bemerkte er.

„Um {jo ruhiger fönnt Ihr annehmen, was ich
Euch gebe.“

Carlſen nahm das Geld und entfernte ſich.

Renno ſtand ſtill, er vernahm die ſich weiter und
weiter entfernenden Schritte des Mannes und ſeine
Burſt athmete erleichtert auf. Er konnte den Zwang,
den er ſich hatte auferlegen müſſen, abſchütteln und
ſeinem aufgeregten Blute freien Lauf laſſen. Einen
Augenblick lang preßte er die Hand auf die Stirn,
um Ruhe zu gewinnen und das aufgeregte Blut zu
beſänftigen.

War das, was er ſoeben gehört hatte, nur ein Traum
oder war es Wahrheit? Seinen kühnen Plänen ſollte
ein Hinderniß entgegentreten, an welches er nicht ge—
dacht hatte und an dem Alles ſcheitern mußte. Es
ſollte nicht ſcheitern. Erbittert ballte er die Rechte
und hob ſie drohend empor, dann eilte er zu dem
alten Jagdſchloſſe.

Sein alter Diener empfing ihn und leuchtete ihm
in ſein Zimmer, an der Thüre blieb er ſtehen, um
die Befehle ſeines Herrn zu erwarten.

„Geh, ich will allein ſein!“ rief Renno. „Niemand
ſoll mich ſtören!“

Der Diener entfernte ſich ſchweigend.

Erregt ſchritt Renno im Zimmer auf und ab, ſeine
blafjen Wangen fchienen noch. bleiher geworden zu
jein. Der Mann, der ihn vor der Rache der Arbeiter
ih der ihn über die Hochebene begleitet Hatte —
Sarlien war fein Bruder. Dieje Entdeckung unterlag
feinem Zweifel mehr, In Waldbühl oben im Gebirge
war er geboren, Jein Name war Carljen. AYl3 fechsS-
zehnjähriger Burjhe war er mit feinem Vater nach
Amerika gegangen und Alles, was er dort in der
langen Reihe der Jahre durchlebt und erlitten, ſtieg
vor ſeinem Geiſte wieder auf. Sein Vater war in
Amerika bald geftorben, allein, verlaffen war er in
dem fremden Lande dageftanden. Die Noth hatte ihn
zur Arbeit gezwungen, zu der er in der Heimath fo
wenig Luft geßabt. Unendlich viel Hatte er gelitten,
auf den verfchiedenften Gebieten fich verfucht, und feine
zähe, egoiftifjche Kraft Latte fich endlich durchgerungen.
Nach unjagbaren Mühen Hatte er daz Glück endlich
gezwungen, ihm zu dienen, und er war reich geworden.

In dem langen und fchireren Kampfe Hatte er
längft vergefjen, daß auch er einft eine Heimath ge-
habt, in ihm hatte er verlernt, Mitleid mit Anderen
zu empfinden, denn auch er Hatte fein8 gefunden, als
e8 ihm {hledht erging. Er verlachte dafjelbe als eine
thörichte Schwäche, es würde ikn nicht gekümmert
haben, wenn Hunderte zu Orunde gegangen wärın,
wenn er dadurch fein Ziel erreicht Hätte, Er hatte
die Menjden verachten gelernt, weil er vor fich {elb{t
feine Achtung mehr befaß. Wozu bedurfte er derfelben
— er war ja reich! Er hatte ein Gefühl der Genug—
thuung darin gefunden, Andere entgelten zu laſſen,
N EAN jelbft gelitten, glücklich hatte er fich jedoch nicht
gefühlt...

Er hatte feine große Befigung in Amerika verkauft
und war ruhelos umhergewandert. Dann war er
nach Europa zurücgefehrt, nit weil er fich darnach
jehnte oder weil ein Gefühl des Heimwehs in ihm
aufgetaucht war, fondern nur weil er des rafılojen
Lebens und Treibens in Amerika überdrüſſig gewor—
den war.

Faſt gegen ſeinen Willen hatte es ihn in die Ge—
gend getrieben, in der er geboren war, und dort hatte
er ſich angekauft. An ſeine Mutter, an den jüngeren
Bruder hatte er kaum gedacht. In Noth waren ſie
urückgeblieben und er glaubte, daß ſie längſt in der—
Kiben verdorben und geftorben feien. Er Hatte nicht
nachgeforſcht — wozu auch? Für ihn gab es keine
Verwandten mehr, er ftand allein und wollte allein
jtehen. Um von Niemand erkannt zu werden, um
mit feiner ganzen Vergangenheit zu brechen, Hatte er
einen anderen Namen angenommen,

Wer fonnte in dem reihen Manne den armen
Knaben wieder erkennen, der einft nach Amerika ge—


dorf wieder aufgefucht Haben, wenn er Verlangen da-
nach empfunden Hätte,

Und. nun hatte ihm das Gejchict fo unerwartet
feinen. Bruder entgegen geführt! Seine Mutter lebte
faum mehr als eine Stunde entfernt, in furzer Zeit
fonnte er fie erreidhen. Das Bild derjelben, welches
er längft vergeffen zu haben wähnte,



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Augenbli lang war e8, alg ob dieje Erinnerung eine
weichere Empfindung, ein Gefühl des Heimwehs und
der Sehnfucht in im wachriefe, dann drängte er das-
ſelbe gewaltſam von ſich. Es war eine Thorheit,
nicht mehr! Wozu ſollte dieſelbe führen? Sollten
durch ſie vielleicht ſeine Pläne ſcheitern? Durfte er
hoffen, daß Eva je die Seinige werde, wenn ſie erfuhr,
daß er der Sohn eines armen Holzhauers im Gebirge
war? — Er wollte ſie erringen, und mußte er Mutter
und Bruder deshalb zum Opfer bringen!

„Ich habe keine Mutter und keinen Bruder mehr!“
rief er halblaut. „Seit faſt dreißig Jahren beſitze ich
ſie nicht mehr — und nun ſollten ſie mir entgegen—
treten — wir ſind getrennt für immer!“

Und doch beſchlich ihn ein Gefühl der Beſorgniß,
daß er erkannt werden könne. Weshalb hatte Carlſen
ihn gewarnt? Konnte in demſelben nicht eine Ahnunz,
daß ir ſein Bruder ſei, aufgeſtiegen ſein? Er ſchrilt
an dem Spiegel vorüber und ſein Blick fiel zufällig
in denſelben. Betrofſen blieb er ſtehen. Hatten Carl-
ſen's Züge nicht mit den ſeinigen Verwandtes und
Aehnliches? Konnte nicht das Auge ſeiner Mutter
ihn wieder erkennen? Er hatte ja ſo oft von der
wunderbaren Schärfe des Mutterauges erzählen hören.
Konnten nicht die Bande des Blütes ſich unbewußt
in Carlſen's Bruſt geltend gemacht haben, als es ihn
trieb, ihn zu warnen?

Sein Auge blickte ſtarr vor ſich hin, auf ſeine
Stirne traten Schweißtropfen, der Gedanke, daß ihm
eine geheime, räthſelhafte Macht gegenüberſtehe, gegen
welche er vergebens ringe, erfaßle ihn und beengte
ſeine Bruſt. Unwillkürlich fuhr ſeine Rechte über die
Stirne hin. Dann richtete er ſich empor und ſein Auge
leuchtete unheimlich.

„Nein — nein! Es iſt Thorheit!“ rief er. „Es
ſind Märchen, mit denen man Kinder ſchreckt, nicht
mich! Ich werde ihnen die Stirn bieten und ſie ver—
lachen, ich will mich frei halten von ſolchen Schwächen!
Wer kann auftreten und ſagen, daß ich der Bruder
des Menſchen bin? Sind in meinem Geſichte noch
die Züge des Knaben zu erkennen? Die glühende
Sonne Amerika's hat es gebräunt. Und wenn Carlſen
ſelbſt als mein Bruder aufträte? Dann wehe ihm!
Wehe ihm, wenn er meinen Wünſchen ſich hindernd in
den Weg ſtellte! Er iſt mir ein Fremder — mehr nicht,
denn ich habe keinen Bruder und keine Mutter mehr!“

Er hatte Carlſen bewogen, bei ihm zu bleiben, um
ihn in ſeiner Nähe zu behalten und zu beobachten,
und er war mit dieſem Gedanken, den ihm der Augen—
blick eingegeben, auch jetzt noch einverſtanden, als er
ruhiger darüber nachſann. Was ihn anfangs erſchrechkt
hatte, verlor mehr und mehr den Charalter des Be—
ſorgnißerregenden für ihn, höchſtens mahnte es ihn zu
um ſo großerer Vorſicht. Noch beherrſchte er die
Verhältniſſe, und wenn wirklich eine Gefahr für ihn
entſtand, dann konnte er ſie im Keime erſticken und
er war entſchloſſen, es zu thun, mochte es ein noch
ſo großes Opfer koſten. —

6. Alle ſinuen auf Rache.

Carlſen trat am folgenden Morgen ſeine neue
Stellung bei Renno an. Es waren nur noch wenige
Arbeiter vorhanden und unter dieſen herrſchte eine
gedrückte Stimmung. Das großartig angelegte Unter—
nehmen erſchien wie verödet. Was vermochten die
wenigen Arme auszurichten, um es zu fördern, und
dies Gefühl ſchien ſich wie lähmend auf die Arbeiter
zu legen.

Es kam aber noch ein anderer Umſtand hinzu, der
ſie verſtimmte. Heß hatte ſchon am Morgen, als ſie
ſich zur Arbeit begaben, mit mehreren aufgeregten
Männern ſie faſt mit Gewalt zurückhalten wollen und
als ihm dies nicht gelungen war, hatte er die Drohung
gegen ſie ausgeſtoßen, daß er am Abende ihnen die
Luſt vertreiben werde, ferner für Renno zu arbeiten.
Vor Allem hatte ſich ſein Groll gegen Carlſen gerich—
tet, den er auf's Neue einen Verräther nannte.

Still arbeitete Carlſen vor ſich hin. Er fürchtete
Heßens Drohung nicht, allein der Gedanke lag doch
ſchwer drückend auf ihm, daß die meiſten Arbeiter ihn
für einen Verräther halten würden. Sprach nicht der
Schein gegen ihn? Er bereute, daß er auf Renno's
verlockendes Anerbieten eingegangen war, er würde
es nicht gethan haben, wenn er nur für ſich allein zu
ſorgen gehabt hätte.

Selbſt Konrad, der dicht neben ihm arbeitete und
den er ſeines entſchiedenen Charakters und des aus—




duldenden Augen. Er erinnerte ſich des kleinen ärm—
lichen Hauſes, in dem ſie gewohnt hatte — einen

als ſonſt und ſchien abſichtlich ein Geſpräch mit ihm
zu vermeiden. In dem Blicke, welchen er dann und
wann auf ihn warf, ſprach fich Mißtrauen aus.

Vergebens ſuchte Carlſen ſich zu bekämpfen. Das
Bewußtſein, daß er kein Verräther war, reichte nicht
aus, um ihn zu beruhigen. Konrad hatte Heßens
Beſchuldigung und Drohung gehört, ſchenkte er ihr
Glauben?


 
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