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I7Ü

den, einen Engländer überbracht? Sie sann noch einen
Augenblick darüber nach, von wem er Wohl kommen
könne, als ihr Blick zufällig auf die Photographie ihres
Vaters fiel.
Plötzlich machte eine wunderbare Ahnung ihr Herz
rascher schlagen, sie drängte das kleine Laufmädchen vor
sich her und öffnete jetzt selbst die Thüre.
„Darf ich bitten?" rief fie hinaus und ging darauf
einige' Schritte wieder in's Zimmer zurück.
Der große stattliche Mann, der jetzt über die Schwelle
trat, wurde sofort vou ihr erkannt als Derjenige, der
ihr gestern den goldenen Lorbeerkranz zugeworfen, dessen:
Gesicht ihr so bekannt vorgekommen war, das fie aber
doch nie zuvor gesehen hatte.
„Verzeihen Sie," sagte der Fremde, „wenn ich in
das Heiligthum einer Dame eintrete; ich bin vielleicht
entschuldigt, wenn ich Ihnen mittheile, daß ich den
Auftrag erhalten, den Gruß nur persönlich zu über-
bringen."
Das sprach Wellbrandt mit fester Stimme. Weiter
aber kam er nicht; der Anblick seiner Tochter machte
einen so überwältigenden Eindruck auf ihn, daß ein
Plötzlicher Schwindel ihn befiel, er war gezwungen, den
nächsten Stuhl zu ergreifen, nm nicht umznfallen, und
es war ihm, als wenn er nicht mehr athmen könne.
Maria eilte erschrocken zu ihn: hin, nm dem wie es
schien von einer Ohnmacht Befallenen beiznstehen.
„Ich danke Ihnen, es geht schon vorüber — ich
bin sehr rasch gegangen — die Hitze draußen — mit
Ihrer Erlaubnis; —" sagte der Unbekannte und ließ
sich auf den Stuhl nieder.
Es entstand eine Pause, in der sich Beide stumm
anblickten. Die ganze Erscheinung des Freunden mit
den ehrenfesten biederen Gesichtszügen und dem halb
ergrauten Haar machte einen angenehmen sympathischen
Eindruck auf das junge Mädchen und noch mehr wie
gestern fand fie etwas Bekanntes in seinem Antlitz, das
sie aber nicht im Stande war, sich zu deuten.
Sie ergriff zuerst wieder das Wort und sagte:
„Sie haben einen Gruß an mich auszurichten?"
„Gestatten Sie nur, mein Fräulein, bevor ich Ihnen
Denjenigen nenne, der mir übertragen, diesen Gruß zu
überbringen, eine Frage an Sie zu richteu, um deren
Beantwortung ich Sie dringend bitte."
„Nun?"
„Lebt Ihr Vater noch?"
„Mein Vater? Ich weiß es nicht, doch glaube ich,
daß er längst gestorben. Denn lebte er, so würde er
sich doch gewiß schon längst einmal nach seiner Tochter
erkundigt haben. Doch, wie kommen Sie zu dieser
Frage?"
„Ist es nicht wenigstens denkbar, Fräulein Well-
brandt, daß man Ihrem Vater den Tod seines Kindes
aus irgend einen: Grunde angezeigt hat und daß nur
diese Nachricht ihn abgehalten hat, irgend welche Nach-
forschungen anzustellen."
„Lebt er denn?" rief Maria mit lauter Stimme,
„o mein Gott, sagen Sie nur, lebt er denn?"
„Es ruht auf seinem Namen hier der Fluch des
Verbrechens," sprach er weiter, ohne ans ihre Frage zu
achten, „hält seine Tochter ihn auch für schuldig?"
„Neiu, o nein! Ich bin von seiner Unschuld über-
zeugt. Er ist kein Verbrecher, er kann es nicht sein!
Ich beschwöre Sie, mein Herr, sagen Sie mir, was
haben diese Worte zu bedeute::?"
„Ihr Vater lebt uud von ihm kommt der Gruß.
O Dank, tausend Dank in seinen: Namen, daß Sie
nicht an seine Schuld glauben!"
„Er lebt? Er lebt? Mein Vater lebt? Wo, wo
ist er?"
Maria stürzte in furchtbarer Erregung zn den: Frem-
den hin und seine Hand ergreifend, rief fie mit fliegen-
den: Athen:: „Wo ist er? O, foltern Sie mich nicht
länger, wo kann ich meinen Vater finden?"
„Er wohnt in New-Pork."
„In New-Port? Und er lebt in Armnth nnd
Elend?"
„O nein, er ist ein wohlhabender, angesehener Mann
geworden."
„Mein Gott," sagte Maria mit feuchten Angen,
„habe Dank für diese Freudenbotschaft! Ich bitte Sie,
erzählen Sie nur von ihn:! Sie kennen ihn?"
„Er ist mein bester Freund."
„Er lebt nicht in Armnth? Was treibt er dort?"
„Er hat eine große Maschinenfabrik."
„Er hat an mich gedacht, er weiß, daß ich lebe?"
„Er weiß es erst seit Kurzen:."
„Ach, kein Tag, seitdem ich sein trauriges Schicksal
erfahren, ist vergangen, wo ich nicht seiner mit Liebe
gedacht habe. Sehen Sie, das ist sein Bild, in diesem
Bilde liebe und verehre ich ihn!"
Sie nahm die Photographie und bevor sie dieselbe
den: Freunde ihres Vaters zeigte, warf fie noch einen
Blick darauf.
„Himmel!" stieß sie plötzlich hervor. Sie sah dem
Fremden rasch und scharf in's Gesicht, die großen blauen
Augen, die Form der Nase, die breite Stirn nun
wußte sie Plötzlich die Ursache, warum sie iu deu Zügeu

Das Buch für Alle.
des fremde:: Mannes etwas Bekanntes entdeckt, es waren
ja dieselben, wie die des jungen Soldaten, nur älter,
ernster und ehrwürdiger, aber was die Form betraf
unverkennbar die gleichen.
Wellbrandt sah es den: jungen Mädchen an, daß
sein Inkognito verrathen war, er sprang von: Stuhle
auf und sagte von Rührung übermannt mit leiser,
schluchzender Stimme:
„Würden Sie sich freuen, Ihren Vater wieder zn
sehen? Maria, mein Kind!"
„Vater! Ja, Du bist es!" schrie Maria auf und
in der nächsten Sekunde lagen sich die beiden durch die
engsten Bande der Natur verbundenen Menscheu in den
Armen.
Es war eine ergreifende Scene. Minuten vergingen,
ehe Vater und Tochter im Stande waren, den Gefühlen,
von denen sie überwältigt wurden, Worte zn leihen.
Endlich lösten sich ihre Arme, Maria führte den Vater
nach den: Sopha nnd setzte sich neben ihn, und hier
nun, Hand in Hand, begann ein Fragen herüber und
hinüber, ein Erzählen bald des Einen, bald der An-
deren, bis sie Beide gegenseitig ihre ganzen Lebensver-
hültnisse von einander erfahren. Nur Eins verschwieg
Maria ihrem Vater, nämlich ihre Verlobung mit Kon-
rad. Sie that es nicht deshalb, weil Letzterer sie ge-
beten, dieselbe vorläufig Niemandem zu Verratheu, den:
eigenen Vater gegenüber durste ja wohl eine Ausnahme
gemacht werden, aber Wellbrandt hatte, als in: Laufe
des Gesprächs die Rede auf den Komponisten der neuen
Oper gekommen war nnd Maria ihm den Namen des-
selben genannt, gefragt, ob es der Sohn des ncugcadel-
ten Freiherrn sei, und als sie darauf mit „Ja" erwie-
dert, da hatte er mit vor Wuth entstellten Gesichts-
zügen ausgernfen: „Der Freiherr v. Bollhein: ist der
größte Schurke der Residenz."
Nun wollte sie nicht eher etwas von ihrer Ver-
lobung sagen, als bis der Vater ihren Verlobten Per-
sönlich kennen gelernt hatte und zu der Ueberzeugung ge-
langt war, daß der, den sie liebte, der beste, bravste
Mensch der Welt sei. Aber diese'so bestimmt aus-
gesprochene Behauptung hatte sie sehr überrascht und
betrübt; es war ja Konrads Vater, über den ein so
hartes Wort gefallen war. Sie hatte nicht die Bemer-
kung unterdrücken können, daß der Freiherr v. Bollhein:
hier in dem Ruf der größten Wohlthätigkeit ftände,
worauf Wellbrandt erwiederte, feine Wohlthätigkeit
wäre nur der Deckmantel, den er über fein schlechtes Herz
gehängt. „Kennst Du ihn denn?" hatte sie gefragt.
„Ja," antwortete er, „ich kann Dir aber heute noch
nichts Näheres darüber nüttheilcn."
Nach diesem Gespräch erhob Wellbrandt sich nnd
sagte:
„Du bist ein alleinstehendes Mädchen und obgleich
ich ein alter Mann bin, so könnten doch allzu häufige
Besuche eiue üble Nachrede Hervorrufen, daher, mein
Kind, will ich die Sehnsucht, die ich nach Dir empfin-
den werde, das Verlangen, Dich häufiger, täglich zu sehen,
so lange wie ein Mann unterdrücken, bis mein Name
von den: Schmutz gereinigt ist, den ein ehrloser Bube
darauf geworfen. Ich komme nur selten, vielleicht er-
sinne ich noch einen Modus, meine Besuche, ohne daß
es auffällig erscheint, öfter wiederholen zu köuueu, falls
es nur nicht rasch gelingen sollte, den Dieb zu fassen.
„Ich habe Dir gesagt, mein Kind," fuhr er fort,
„daß ich den: Räuber meiner Ehre auf der Spur bin,
ja, ich will noch hinznfügen, daß ich bereits sehr wich-
tige Beweisstücke gegen ihn in Händen habe. Den
Namen laß mich vorläufig Dir verschweigen, es darf
die Luft ihn noch nicht hören, damit er nicht vorher
gewarnt werde, denn nur durch die Neberraschuug kann
ich ihn zum Geständnis; bringen. Aber Eins, liebe
Maria, mußt Du mir versprechen, verrathe Niemanden:
meinen wahren Namen, keiner vertrauten Freundin,
keinem Freund, es stehen dabei Deine und meine Ehre
auf den: Spiel; nur dann erst, wenn es festgestellt ist,
daß nicht ich, sondern ein Anderer der Dieb war, soll
er mit neuen: Glanz aus der langen Nacht des Ver-
dachtes hervorgehen. Versprichst Du es mir?"
„Ich verspreche es Dir, Vater, und werde mein
Versprechen halten. Nicht wahr, wir schreiben uns
täglich, Du bringst die Briefe selbst zur Post und holst
Dir die meinigen, die voslo rostamo vermerkt find,
Persönlich ab, so gibt auch ein so reger Briefwechsel
keine Veranlassung zn Klatschereien."
„Nun lebe Wohl, mein liebes Kind."
„Noch einen Kuß, noch eine Umarmung nnd Vater
nnd Tochter nahmen Abschied von einander.
Frau Kapellmeister Waidmüller hatte Wellbrandt
in das Zimmer der Sängerin hineingehen sehen.
„Das fängt gut an!" sagte sie leise nnd fügte etwas
lauter hinzu, während sie mit wahrer Walch in der
Suppe rührte, die zn Mittag gegessen werden sollte lind
die sie selbst kochte: „Das ist eine gefährliche Person,
meinen Mann hat sie auch schon in ihren Schlingen.
Ei, sieh null — also ich schreibe jeden Groschen an,
den sie mir kostet! Na warte, das trage ich Dir wohl
noch einmal wieder heim!"
Sie nahm den Topf vom Fener, damit er nicht au-

Hcst st.
brenne, schickte das Lausmädchen mit einen: Auftrag von
dannen, ihren Sohn Nikolaus ebenfalls, denn sie wollte
das, Geschäft des Spähens durch's Schlüsselloch diesmal
allein und ohne Zeugen übernehmen.
Als Beide fort waren, schlich fie sich auf den Fuß-
spitzen zu Maria's Zimmerthür und brachte das Auge,
welches nicht die Gewohnheit hatte, sich verschämt in die
Ecke zu drücken, an die kleine Oeffnung, sah aber an-
fangs nichts, nur vernahm fie ein undeutliches Ge-
murmel, verstand aber nicht den Sinn.
Mit einiger Ausdauer verblieb fie in dieser gebück-
ten Stellung, und diese Ausdauer sollte zu ihrer Freude
belohnt werden.
„Das ist stark!" murmelten ihre schmalen Lippen,
„nun umarmt sie Dcü auch. Also, mein moralisches
Fräulein, schreibe ich die Groschen an, so kann ich auch
dies noch nnschreiben, und werde es seiner Zeit schon
verwerthen!"
Sie hatte genug gesehen und ging in ihre Küche
zurück. Aber weder ihren: Mann noch ihren: Spröß-
ling theilte sie mit, was sie heute Mittag durch's Schlüssel-
loch entdeckt hatte.
12.
Der Abend war warm, Windstillund dunkel; dunkel
jedoch nnr außerhalb der Residenz, während die Stadt
selbst in ein vollständiges Lichtmeer getaucht war. In
sämmtlichcn Straßen, mit Ausnahme weniger abgele-
gener Gassen, waren alle Häuser bis auf das letzte
Fenster glänzend erleuchtet, mit Blumenguirlauden.
Fahnen und Teppichen geschmackvoll dekorirt, viele mit
Transparenten, ans denen die Namen „Ferdinand und
Isabella" Prangten, verziert. Ehrenpforten, ebenfalls
mit Transparenten, waren an den: Ein- und Ausgange
fast jeder Straße erbaut, Laubgewinde spannten sich von
Hans zu Haus und die Lüden hatten ihre farbenpräch-
tigsten Stoffe, ihre schönsten Verkaussgegenstünde aus-
gestellt. Alle öffentlichen Gebäude waren bedeckt mit
Tausenden kleiner farbiger Lämpchen, um alle größeren
Plätze brannten große Pechpfannen, ja selbst der alte
ehrwürdige Don: ragte majestätisch in die Luft mit
seinen unzähligen Lampions von blauem Glase.
Alle Einwohner waren auf den Beinen; wer nicht
lahm nnd krank oder aus einer anderen Ursache das
Hans zu hüten gezwungen war, verließ seine Wohnung,
um sich die glänzende Illumination anzusehen und einen
guten Platz zu gewinnen, von wo aus er den Prinzen
und namentlich seine junge Verlobte so deutlich wie
möglich betrachten könne. Kanonenschläge sollten die
Abfahrt des fürstlichen Brautpaars von: Schlosse ver-
kündigen. Ein ungeheures Menschengewühl wogte auf
den Gassen hin nnd her. Ans der einen Seite des
Trottoirs aller Straßen wälzte sich der Strom nach
rechts, auf der anderen Seite nach links; wer einmal
mitten darin war, wurde ohne Gnade weiter geschoben,
an eine Umkehr war nicht zu denken. Das Gedränge
war um so größer, als nach einen: durch Anschlagezettel
Pnblizirten Befehl des Magistrats Niemand die Mitte
der Straße betreten durste, damit durch die vielen Equi-
pagen und Reiter kein Unglück herbeigeführt würde.
Unter den sich fortschiebenden Menschen befanden sich
auch eiu kleiner Mann mit Weißen Haaren uud eine
große, stattliche, tief verschleierte Dame, die von Ersteren:
geführt wurde.
„Ich bereue es doch, Doktor, daß wir dies Wagniß
unternommen haben und ich aus meiner mehr als
zwanzigjährigen Einsamkeit in diese grelle Beleuchtung
hinansgetreten bin. Ich fühle mich ängstlich und be-
klommen inmitten dieses entsetzlichen Gewühls, nnd cs
ist nur, als wenn mich Jeder durch den Schleier er-
kennen könnte. Wenn mich nicht mit magischer Ge-
walt die überschwengliche mütterliche Sehnsucht über-
wältigend gefaßt hätte, Isabella nur ein einziges Mal
zn sehen, ich wäre zu Hause geblieben."
„Diese Sehnsucht ist ja so natürlich, liebe Frau
Bernau, und ich freue mich, daß Sie die Absicht aus-
geführt haben," entgegnete ihr Begleiter.
Neben Frau Bernau ging ein Mann in einer Ar-
beitsblouse mit einen: großen rothen Vollbart und mit
einen: so tief in's Gesicht gedrückten Kalabreser auf deu:
Kops, daß man von feineu: Antlitz eigentlich fast nichts
weiter sah, als den rothen Bart, der ihn: bis auf die
Brust hiuabreichte.
Der Herr und die Dame hatten, nm das sie umgebende
Geräusch zn übertänben, etwas lauter sprechen niüssen,
es war aber gerade so laut gewesen, daß der mit ihnen
in einer Reihe gehende Arbeiter es deutlich verstehen
konnte.
Hatte er auf den Aistang, des Gespräches nicht son-
derlich geachtet, so wurde er aber im Verlauf desselben,
namentlich, als er die Namen Isabella nnd Bernau
vernahm, Plötzlich stutzig, uud vou diesem Augenblick
war er ganz Ohr, ganz Aufmerksainkeit. Er sah seine
Nachbarn von Zeit zu Zeit von der Seite an, verweilte auf
den: Gesicht des Herrn immer nnr wenige Sekunden, das
der Dame war wegen des verhüllenden dichten Schleiers
nicht zu erforschen, aber seine Blicke streiften desto mehr
die Gestalt derselben, die er trotz des Gedränges einer
genauen Musterung zn unterwerfen versuchte.
 
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