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LK6

Ein mattes „Herein" erfolgte nnd Willibald trat ein.
Aber wie erstaunte er, als er den durch den glänzend-
sten Erfolg gekrönten Komponisten, durch die Liebe des
schönen talentvollen Mädchens so Beglückten mit bleichen,
abgehärmten Wangen in einein Lehnstuhl zusammen-
gesunken erblickte.
„Guten Tag, Konrad," rief er ihm zu. „Mein
Gott, wie siehst Du aus!" fuhr er, näher tretend, besorgt
wrt, „Du bist krank!"
„Seelenkrank, Willi," sagte Konrad, sich erhebend.
„Du seelenkrank? Was ist geschehen?"
„Wie Wohl thut mir Dein Anblick, Willibald.
Komm, sehe Dich, ich will versuchen, wenn ich in Deine
treuen Augen schaue, für einen Augenblick zu vergessen,
daß die Gemeinheit eines Weibes mir den Glauben an
alle Wahrheit geraubt hat. Ich bin elend, o, so
elend!"
„Was ist Dir begegnet, Kunni, von wem sprichst
Du? Doch nicht von Maria?"
- „Wenn solches Gesicht lügen konnte, wo ist dann
die Redlichkeit zu entdecken?"
„Maria?"
„Es ist Alles Lug und Trug, nur Verstellung und
Heuchelei sind ehrlich, denn ihre Ehrlichkeit ist Falsch-
heit. Diese Konsequenz macht einen Riß durch meine
Jugend, ich bin über Nacht um zehn Jahre gealtert."
„Sprich, was ist Dir widerfahren?"
„Sie verlobt sich mit mir und hatte ein Verhältniß
mit einem Anderen, das wäre nun gerade kein Ver-
brechen gegen mich, aber sie hatte sich mit mir verlobt
und seht dieses Verhältniß fort! — Gestern schleppte mich
fast mit Gewalt der schielende Drache, die Waidmüller,
an das Schlüsselloch, und da sah ich sie in den Armen
eines grauhaarigen alten Mannes. Ist es denkbar, daß
hinter dieser Larve der Sittsamkeit und vollendeten
Weiblichkeit ein Geist siht, der nichts weiter als ein
gewöhnlicher Rechenmeister ist, der einen alten Geldsack
so lange offen hält, bis der junge Geldsack sich ihr er-
schließt? O, Pfui!"
„Wie, Konrad, so rasch verdammst Du das liebliche
Mädchen? Ist hier denn jeder Jrrthum ausgeschlossen,
keine andere Deutung mehr möglich? Kann der, den
Du gesehen, nicht ein alter Freund, ein Verwandter-
sein? — Herr Gott," fuhr er lebhafter fort, „da füllt unr-
ein — das hätte ich wahrhaftig bald vergessen — als
ich vorhin die Schwaneninsel verließ, eilte Hermine mir
nach, und mir ein verklebtes Couvert überreichend, sagte
sie: ,Wcnn Du zu Bollheim's gehst, so übergib diesen
Brief Maria's Verlobten, aber unter vier Augen. Klara
darf nichts davon erfahren, nnr er allein darf ihn lesen,
es handelt sich um Maria Wellbrandt's Vater? Ich
konnte nicht weiter darnach fragen, da sie rasch wieder
in's Haus zurückkehrte. Hier ist der Brief."
„Das ist seltsam," sagte Konrad, den Brief mit
einer gewissen Hast dem Freunde aus der Hand nehmend.
Nachdem er das Convert geöffnet, sielen ihm drei
verschiedene Papierstücke entgegen, von denen das eine
sehr gelb und schmutzig war. Zu oberst lag ein Schreiben
von Hermine, das folgendermaßen lautete:
„Geehrter Herr v. Bollheini!
Sie werden die unglückselige Vergangenheit von
Maria's Vater durch Letztere selbst bereits erfahren
haben. Ich kenne meine Pflegeschwester zu genau, als
daß sie nicht in der ersten Stunde dies Geständniß
ihren: Verlobten gemacht haben sollte. Durch einen
wunderbaren Zufall bin ich in den Besitz der beifolgenden
Schriftstücke gelangt, und nur Ihnen, dem künftigen
Gatten Maria's und dem Sohne des Freiherrn von
Bollheim, kann ich sie anvertrauen, in der Voraussicht,
daß Sie ganz allein den richtigen Weg finden werden,
den Einen zu schonen und dem Anderen zu seinem Recht
zu verhelfen.
„Ich ging gestern von der Schwaneninsel zu Fuß in
die Stadt, um Klara zu besuchen und ihr für alle herz-
liche Liebe und Pflege während meiner Krankheit noch
einmal aus voller Seele zu danken. Ich war noch sehr-
weit von Ihrer Villa entfernt, da sah ich Sie, Herr
v. Bollheim und Klara aus dem Hause treten. Sie
gingen der Residenz zu, Klara trat durch die Gitter-
pforte in den Garten. Ich wußte also, wo ich meine
liebe Freundin finden konnte und folgte ihr nach einiger
Zeit durch dieselbe Pforte in den Garten. Ein lauter
Wortwechsel, der aus dem geöffneten Fenster des ersten
Stockes hervordrang, fesselte meinen Schritt, zumal da
ich die Stimme Ihres Herrn Vaters erkannte, die sehr-
erregt zu sein schien und folgende Worte aus dem
Munde eines Anderen vernahm, die mich im höchsten
Grade frappirten: ,Nur unter der Bedingung sollen Sie
vor der öffentlichen Entehrung gesichert werden, wenn
Sie, einerlei durch welche Mittel, den beschimpften Na-
men Wellbrandt's von dem Schmutz wieder reinigen,
den Sie darauf geworfen, wenn Sie mich, denn ich bin
Wellbrandt, in meiner Ehre und meinem guten Ruf
wieder Herstellen?
„Ihren Herrn Vater hörte ich hierauf nur mehrmals
das Wort Lüge ausrufen und vernahm gleich hinterher,
wie der Andere sagte: ,Hier ist der Brief und dies ist
der Erlaubnißschein zum Besuch Ihrer Institute — wird

Das Buch für Alle.
uieht jedes Gericht es anerkennen, daß beide Schriften
von einer Hand geschrieben?'
„In demselben Augenblicke fliegt mir ein Papierball,
der aus dem geöffneten Fenster geworfen worden, buch-
stäblich an den Kopf. Ich hebe ihn auf, entfalte ihn
und die ersten Worte, die ich lese, sind: Wellbrandt ist
unschuldig. Ich höre nicht mehr nach den: furchtbaren
Lärm, der sich dort oben entspannen, sondern eile weiter,
denn ich hatte das Gefühl, daß soeben einen: armen
Manne ein großes Unrecht zugefügt worden war. In
einiger Entfernung saß Klara auf einer Bank, ich gehe
zn ihr und bewege sie, sogleich mit mir in die Villa zu
gehen. Was ich erwartete, geschah, ich sah es von
Klara's Zimmer aus, nach wenigen Minuten kau: Ihr
Herr Vater in den Garten, mit sichtlicher Unruhe auf
dem Platz uuter dein geöffneten Fenster nach etwas
suchend. Mein erster Gedanke war gleich, Ihnen, Herr
v. Bollheim, diese Papiere zu übergeben und nicht Maria;
Sie waren aber nicht zu Hause und Klara durfte nichts
ahnen. Ich bin überzeugt, Sie werden den richtigen
Ausweg zu finden, dem Unheil zu begegnen wissen nnd
zugleich Maria's Vater, dem Vater Ihrer Braut helfen.
Es grüßt Sie Ihre Hermine Felseck."
Wohl nie hatte ein Mensch mit getheilteren Ge-
fühlen einen Brief gelesen, wie Konrad diesen, und diese
Gefühle waren abwechselnd in feinen Gefichtszügen
deutlich ausgeprägt. In der einen Sekunde hätte er in
grenzenlosem Jubel aufjauchzen mögen, denn darüber-
konnte kein Zweifel mehr obwalten, Maria war un-
schuldig, der Mann mit den grauen Haaren, an dessen
Brust er selbst sie gesehen, war Wellbrandt, ihr Vater.
In der nächsten Sekunde aber erfaßte ihn das ganze
Entsetzen der Thatsache, daß sein eigener Vater ein Ver-
brecher sei. O, eine Ahnung hatte es ihm ja stets ge-
sagt und diese Blätter bestätigten seinen Verdacht. Die
Handschrift war nicht zu verkennen, diesen zerknitterten,
schmutzigen Brief hatte sein Vater vor zweiundzwanzig
Jahren geschrieben.
Nachdem er letzteren hinlänglich geprüft, sagte er:
„Maria ist unschuldig, Willibald, aber wir sind
entehrt."
„Mein Gott, was heißt das nun wieder, Konrad?"
„Du bist mit Klara verlobt, bist mein Schwager,
mein Bruder, mein Freund — als Mitglied des Hauses
will ich Dir nichts vorenthalten, Du sollst Alles wissen
— nimm und lies!"
Willibald durchflog die Schriften nnd nachdem er-
ste gelesen, ries er aus:
„Das ist hart, das ist traurig! O, Dein armer
Vater, Konrad! Und nach Decennien erst muß ihn das
Schicksal ereilen? Ja, er hat gefehlt, schwer gefehlt,
aber welche That er auch begangen haben mag, sein
ganzes übriges Leben, die Hilfe, die er so vielen seiner
Nebenmenschen gespendet, die großartigen Wohlthatcn,
die er Tausenden geleistet, haben sie längst ausgelöscht,
habeu längst die Schuld gesühnt!"
„Du bedauerst meinen Vater und hast kein Wort
des Bedauerns für den armen unglücklichen Mann, der
unschuldig iu's Gefäugniß geschleppt, dessen Name in
die Register der Diebe eingeschrieben wurde, den man
von seinem Kinde riß, den inan hinanssticß in eine
fremde Welt, jeder Noth und Gefahr ihn Preis gebend?"
„Gewiß habe ich ein tiefes Mitleid mit ihm, aber
Dein Vater steht meinem Herzen näher. Und kennten
wir den Beweggrund feiner unglücklichen Handlung —
bei diesen: Manne, dessen Leben seit jener Zeit eine
Liebe für seine Mitmenschen ist — wir würden milder
über sein Vergehen urtheilen."
„Es mag sein, Willibald, ja, ich wäre der Erste,
der ein Vergehen, vielleicht durch die Noth des Augen-
blicks geboren, verzeihen würde, aber das kann ich
meinen: Vater nicht vergeben, daß er, wie aus den:
Briese Deiner Schwester hervorgeht, sich der Beweis-
mittel Wellbrandt's bemächtigt. Hätte er jetzt, da der
Unglückliche zurückgekehrt ist, da er weiß, daß ich dessen
Tochter liebe, nicht Alles thun müssen, um das Unrecht,
das er dem Unschuldigen zugefügt, wieder gut zu machen?
Es hätte eine Form gefunden werden müssen, Well-
brandt seinen ehrlichen Namen wieder zu geben und
meinen: Vater den seinen zn erhalten."
In diesen: Augenblicke klopfte es an die Thüre; auf
Konrads „Herein" trat der Diener in's Zimmer und prü-
fentirte ans einen: silbernen Teller einen Brief, der mit
der Stadtpost gekommen war.
Derselbe war von Maria, und der Inhalt, den
Konrad sogleich seinen: Freunde vorlas, lautete wie
folgt:
„Mein lieber, lieber Konrad!
Was hat Dich gestern nnr abgehalten, zu mir zu
kommen? Ich habe Dich so fest erwartet. Noch nie habe
ich mich so sehr nach Dir gesehnt, um Dir mein ge-
quältes Herz auszuschütten, und gerade gestern kamst
Du nicht. Oder bist auch Du schon ii: den Streit
unserer Väter mit hineingcrissen und hast Partei er-
griffen für den Deinen und gegen den meinen und dann
auch gegen mich? O, das wolle Gott nicht! Du wirst
es gewiß schon wissen, daß mein armer verfolgter Vater
zurückgekehrt ist, daß er gestern bei den: Deinen war,

Htst 12.
daß sie hart an einander gerathen sind? Als mein Vater
die Beweise seiner Unschuld — er hat jetzt Beweise,
aber solche, die einem Anderen die Schuld aufbürden —
den: Freiherrn v. Bollheim vorzeigte, da hat Letzterer
sie ihn: entrissen und aus dem Fenster geworfen. Was
darauf geschehen, o liebster Herzensschatz, die Feder-
sträubt sich, es niederzuschreiben, es Disi untzntheilen,
denn Du bist sein Sohn, aber ich bin die Tochter des
unglücklichsten Mannes aus Erden, dem man zum zweiten
Male dieselbe Schmach angethan, wie vor zweiundzwanzig
Jahren. — Dein Vater hat ihn verhaften lassen, weil
er ihn: einen goldenen Ring und ein Packet mit Kassen-
scheinen gestohlen haben soll!"
„Das ist infam!" rief Konrad, nachdem er diese
Stelle des Briefes gelesen, „das ist infam, infam!"
Willibald war starr, es war ihn: unmöglich, für
diese That des Mannes, den er verehrte, in dem ersten
Augenblick einen Entschuldigungsgrund zu finden.
Konrad las weiter:
„Auch heute Morgen habe ich Dich mit grenzenloser
Sehnsucht erwartet — wenn Du irgend kannst, mein
liebster Herzensschatz, so komm so bald wie möglich zu
mir, damit wir gemeinschaftlich berathen können, ob das
furchtbare Unglück nicht noch zu mildern ist und damit
an Deinen: Anblick mein armes Herz einen kleinen Trost
finden kann. Ich weiß, Du liebst mich, Konrad, o laß
das furchtbare Familiengeheimniß, das sich zwischen
unsere Herzen zu schieben droht, nicht durch seine Schwere
unsere Liebe erdrücken. Schütze mich, rette unsere Liebe!
Deine Maria."
„Das ist schrecklich," sagte Konrad, den Bries zu-
sammenlegend und in die Seitentasche seines Rockes
steckend. „Welch ein Verhängniß! O mein Vater, mein
Vater, das war ein Schurkenstreich!"
„Nenne es doch nicht so, Konrad," sprach Willibald
mit ernster, trauriger Stimme, „es ist verwerflich, ja,
gewiß, aber psychologisch kann ich es nnr wenigstens
erklären, daß er den Mann, der in diesem Angenblicke
in: Stande ist, ihn: Alles zu rauben, Ehre, Ansehen,
ja das Leben vielleicht, der ihn und seine Kinder vor-
der Welt ehrlos macht, in der Aufregung, die ihn er-
faßt, unschädlich zu machen sucht."
„Dein weiches Herz geht einmal wieder nut Da-
durch, Willibald, Du würdest auch einen Mord ent-
schuldigen, wenn Dir der Mörder bis dahin sympathisch
gewesen wäre. Ich denke anders. Ich kann mein Ur-
theil über eine That nicht modifiziren, selbst wenn mein
eigener Vater der Thäter ist. — Doch was zögere ich
noch?" fuhr er aufspringend fort, „sie, meine Geliebte,
meine Maria härmt sich und ich bin noch hier.
Ich will Dich zu Klara begleiten, bleibe dort so
lange, bis ich wieder komme, ich komme rasch zurück
und dann werde ich ein Wort mit meinem Vater-
sprechen. Wenn ich die neue Schande ihn: auch nicht
mehr von seinen grauen Haaren herunterwaschen kann,
so will ich ihn doch verhindern, seine That weiter
auszudehnen, um Wellbrandt's, aber auch um seines
eigenen Bewußtseins wegen."
„Sei nicht zu hart gegen ihn!"
„Beruhige Dich, ich werde uie dabei vergessen, daß
er mein Vater ist."
„Dieses Wort tröstet mich, Deii: Wort ist mir alle-
zeit ein sicherer Bürge."
Konrad zog eiligst einen leichten Sommerpaletot an,
nahm Handschuhe und Hut und führte den Freund zu
Klara, wo ein stürmisches Wiedersehen erfolgte.
Darauf verließ er die Villa, stieg in die nächste
Droschke und fuhr in die alte Theaterstraßc.
Als er den Vorplatz der Waidmüller'schen Etage be-
trat, sah er Frau Kapellmeister vor Maria's Thür und
in einer Stellung, als wenn sie erst soeben von dem
Vergnügen des Spionirens durch's Schlüsselloch sich er-
hoben. Sie drehte sich um, und den Ankommenden er-
staunt ansehend, sagte sie mit spitzer Stimme:
„Sie sind es, Herr Baron? Sie Wollei: vermuthlich
meinen Mann sprechen?"
„Nein, aber Fräulein Wellbrandt."
„Wie?" rief mit unangenehmem Lächeln Frau Waid-
müller, „sind Sie noch nicht kurirt? Nun, so gehen
Sie nur hinein, dann können Sie gleich den Herzaller-
liebsten der Theaterprinzessin persönlich kennen lernen,
er ist gerade drinnen."
„Aus den: Wege, alte verleumderische Hexe!" sagte
Konrad, die Frau Kapellmeister in seiner Entrüstung
etwas unsanft bei Seite schiebend.
„Hexe?" kreischte diese. „Ich eine Here? Das werde
ich meinem Manne sagen, für diese Beleidigung —"
„Sagen Sie ihm zugleich, daß ich Sie stiegen Ihres
Spionirens und Horchens aus dem tiefsten Grunde
meiner Seele verachte! Platz da!" ries er jetzt so dro-
hend und laut, als die Wnthschnaubcnde sich wieder
zwischen ihn und die Thüre gedrängt, daß Fran Waid-
müller, in wirkliche Angst versetzt, er könne ihr ein Leides
thun, schleunigst zur Seite wich.
Rasch öffnete er jetzt, sich nicht weiter um die Schimpf-
reden der Erbosten kümmernd, die Thüre nnd trat in
Maria's Zimmer.
Wellbvandt faß in: Sopha, neben ihm stand Maria.
 
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