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578

den kann — mein Gott, weshalb soll ich das nicht
dürfen?"
„Der Jurist kann Sie doch damit nicht durchlassen."
„Rudolph Merk ist kein Jurist, er hat nur seinen
gesunden Menschenverstand, der ihm sagte, es gibt für
deine Schwester keine andere Rettung, keine andere Hei-
lung von dem, was er, was wir Alle, die wir Theil
an ihrem Schicksal nahmen, für eine fixe Idee hielten.
Ich kann ihn deshalb nur loben, ja fast beneiden um
die geniale That. Wäre ich Otto Frank, wahrhaftig,
ich beneidete ihn darum. Die Versicherungsgesellschaft
hat er entschädigt — sagten Sie das nicht?"
„In der That."
„Nun, was werfen Sie ihm noch vor? Wollen Sie
ihn strafen deshalb?"
„Darüber," sagte der Gerichtsrath zögernd, „hat das
Gericht zu entscheiden — ich will jetzt weiter hier nichts,
als alle diese Aüssageu von Frau Frank protokolliren."
„So schreiben Sie, Gerichtsrath — ich unterdeß habe
auch zu schreiben, wahrhaftig — wenn ich im Stande
bin, meine Gedanken dazu zusammenzuhalten nach sol-
chen — Enthüllungen!"
Der Baron ging, nm, noch ganz außer sich, in
mannigfach zerrissenen Bruchstücken feinen zwei Freun-
den die ganze tragische Geschichte mitzutheilen, die er
eben vernommen und die ihn viel zu sehr erregte, um
irgend etwas davon zurückhalten zu können. Schreiben
wollte er dann gleich an Derschau — ihn keinen Augen-
blick länger in Zweifel lassen über das Rudolph ge-
schehene Unrecht — aber wie konnte er es heute zu
Stande bringen, die Fragen, die Erörterungen mit dem
Geheimrath und dem Obersten, mit Bertha, als diese
endlich von dem Gerichtsrath, nachdem sie das Protokoll
unterzeichnet hatte, entlassen war, nahmen die Stunden,
den Tag fort, und so rief der Oberst endlich aus:
„Zum Schreiben an Derschau kommen Sie nicht
mehr — telegraphiren Sie! Ganz gewiß geht die De-
nunziation von diesem Spesser aus — telegraphiren Sie
an Derschau: Alles falsch — Rudolph wird dem Spesser
so wenig ein Leids angethan haben, wie dem unglück-
lichen Branco — aber senden Sie uns diesen Spesser,
wir wollen ihn lynchen!"
Zu solch eineni Telegramm kam es nun freilich
auch nicht mehr, dagegen sandte Bertha zur nächsten
Station ein Telegramm ab, das ihren Mann bat, un-
verzüglich herüber nach Bellersheim zu kommen. Bertha
ertrug natürlich nur schwer seine Abwesenheit an diesem
Tage — und der Baron brannte, seine Absicht zu hören,
wie er sich Gewißheit verschaffen könne, ob denn wirk-
lich ein Testament des alten Vorndorf da gewesen oder
nicht — seine ganze Gemüthsrnhe war doch nun dahin,
bis er sich darüber Licht verschafft!
Sechzehntes Kapitel.
Frank's Erklärung.
Der Gerichtsrath, für den über seinem Protokolliren
der Tag dahingegangen war, hatte die Nacht auf Bellers-
heim zugebracht, und ehe er schied am anderen Morgen,
noch eine Unterredung mit dem Baron gehabt. Dieser
hatte ihm auf Bertha's Bitten warm das Schicksal
Friedrichs an's Herz gelegt und es erwirkt, daß er das
Versprechen gab, den alten Mann seiner Haft entlassen
zu wollen; er deutete daneben auch dem Baron an, daß
die Aussagen Berthes, die in befriedigendster Weise mit
denen des Gärtners übereinstimmten, wohl hinreichen
würden, von einer kriminellen Behandlung der Sache
absehen zu lassen; was von Friedrich wie Bertha ge-
than oder besser unterlassen worden, gehöre in's Gebiet
der Vergehen — vielleicht auch Rudolph Merlls Hand-
lung, es sei wenigstens anzunehmen, daß sein Richter-
collegium dahin entscheiden würde.
Und dann brachte der Baron seinen Tag damit zu,
an Derschau seinen langen ausführlichen Brief zu
schreiben.
Am Abende kam Otto Frank; ihm mußten die Aus-
schlüsse, die er erhielt, mehr als selbst den: Baron zu
Herzen gehen, da sie ja geeignet waren, störend auf sein
Verhältniß zu Bertha zu wirken — es war ihm an-
fangs, als treffe ihn der Schlag bei allem dem, was
er vernehmen mußte, und weniger trafen ihn dabei fast
die Thatsachen selbst als die Möglichkeit, daß Bertha
ihm sie so lange hatte verborgen halten können. Er
hatte Mühe, sich in ihre Gedankenrichtung und ihre
Seelenstimmung zu finden, in welcher sie das Ge-
heimniß bewahrt hatte, um nicht den unbefangenen
Sinn eines Gatten, eines Bruders mit einer dunklen
Last, einem drückenden Schicksal zu beschweren, während
durch rückhaltlose Mittheilung doch nichts gebessert und
geändert werden konnte; und worin sie zumal sich ge-
scheut hatte, durch Offenbarung des Geschehenen dem
Charakterbilde des Vaters, an welchem sie mit solcher
tiefen Innigkeit hing, in der Vorstellung ihres Gatten
zu schaden. War sie ja doch selbst über das Maß der
Schuld ihres Vaters im Unklaren! Otto Frank aber
liebte Bertha zu aufrichtig, um sich nicht bald in die
Gedanken, welche sie bestimmt hatten, zu finden, und
dann auch, sie nur noch höher zu halten und zu ver-

Das Buch für Alle.
ehren um Alles dessen willen, was sie gelitten haben
mußte, und um des Heroismus ihres Schweigens willen!
Bei dem, was sodann auf Bellersheim erörtert und
gesprochen wurde über die Voraussetzung, niit der der
unglückliche Branco sich getragen und die ihn zu einem
so tragischen Ende geführt, zeigte Frank sich geneigt,
an die Wahrheit dieser Voraussetzung, an die Existenz
eines von Vorndorf errichteten Testamentes zu glauben.
„Nach Herrn v. Derschau's Briefe," sagte er, „lie-
gen der Tochter des nmgekommenen Mannes Zeugnisse
vor, daß Vorndorf wirklich ein Testament zu Gunsten
des Letzteren gemacht hat — von einem Briefe ist, wenn
ich nicht irre, die Rede, in welchem Vorndorf selber es
meldet; ist es also geschehen, so wird dieser, wenn
es ihm Ernst damit war, doch auch den einfachen wei-
teren Schritt gethan haben, der seinem Testamente die
Giltigkeit sicherte. Er mußte es dazu einfach auf irgend
eine Gerichtsstelle tragen und erklären, daß die Schrift
seinen letzten Willen enthalte. Der Richter legte es
dann unter Siegel und übernahm es zur gerichtlichen
Aufbewahrung, worüber ihm ein Depositionsschein aus-
gefertigt wurde. Das hat, denk' ich mir, Vorndorf ge-
than, und zwar, da er zuletzt in Prag wohnte, nicht
dort, wo die Sache, so viel ich weiß, nicht mit solcher
Einfachheit abzumachen ist, sondern in Deutschland ir-
gendwo, in einem der Badeorte, die er im Sommer be-
suchte, in irgend einer Stadt, die er auf seinen Reisen
hin und zurück berührte. Den erhaltenen Depositions-
schein hat er an sich genommen, vielleicht ohne viel
Gewicht darauf zu legen, ohne eine Vorstellung davon,
wie wichtig er werden könne. Vorndorf soll so zerstreut
gewesen sein, von Haufen Zeitungsblättern, Stößen von
Journalen umgeben, die inan nach seinem Tode ver-
brannt hat — wie leicht kann ein solches Papier darunter
gerathen sein? Vielleicht hat er selbst es gebraucht, um
sich die Cigarre damit anzuzünden — wie geht ein un-
ordentlicher alter Junggeselle mit Quittungen, Recepisses
und solchen Scheinen um! Kurz, Bertha's Vater-
hat, als er iu Prag den Nachlaß übernahm, einen sol-
chen Schein nicht gesunden — aber das beweist nicht,
daß ein Testament Vorndorf's nicht vorhanden ist, nicht
irgendwo auf dem Gerichte eines fernen und uns viel-
leicht kaum dem Nameu nach bekannten kleinen Ortes
liegt -"
„Aber," rief hier der Oberst lebhaft aus, „muß
denn solch ein Gericht nicht sofort ein bei ihm hinter-
legtes Testament öffnen und den Anverwandten mitthei-
len, wenn der, welcher es hinterlassen hat, gestorben ist?"
„Nun ja, sicherlich, es muß die Verwandten vor-
laden, im Termin die Unverletztheit der Siegel konstatiren
lassen, das Dokument öffnen und publiziren — das muß
es natürlich! Es ist aber durchaus nicht verpflichtet,
alle Civilstandsregister im heiligen römischen Reiche und
den sämmtlichen Grenzlündern zu verfolgen, um zu sehen,
ob etwa Einer, dessen letzter Wille bei ihm deponirt ist,
das Zeitliche gesegnet hat. Das hieße ihm zu viel zu-
gemuthct. Wenn Sie in einem Badeort in Mecklenburg
Ihr Testament deponiren und sterben in Görz im Friaul
oder in Münster-Maifeld in der Eifel — wie kann das
der Mecklenburger Richter wissen? Er wartet es ab,
bis die Verwandten, die, welche ein Interesse an der
Eröffnung des letzten Willens haben, ihm den Tod
notifiziren, ihm den Depositionsschein vorweisen und so
die Eröffnung veranlassen..."
„Und wenn dies nicht geschieht, wenn die Verwand-
ten das Vorhandensein nicht kennen, wenn sie vielleicht
auch die Eröffnung und das, was in eineni Testament
geschrieben stehen kann, nur als für sie nachtheilig fürch-
ten — was dann?"
„Wenn der Richter nichts von den: Tode erfährt,
weder durch die Notorietät, noch durch Mittheilung der
Hinterlassenen, so läßt er natürlich das Testament da,
wo es aufbewahrt ist, im Winkel seines Depositen-
schrankes ..."
„Bis in alle Ewigkeit?"
„Das nun freilich nicht," versetzte Frank. „Die
Testamentsfähigkeit eines Menschen beginnt nach seinen!
vierzehnten Jahr. Die Lebensdauer eines Menschen wird
juristisch zu siebenzig Jahren angenommen. Er hat also
nur sechsundfünszig testirfähige Jahre zu verleben. Des-
halb ist es vorgeschrieben, daß der Richter ein Testament
nur sechsundfünfzig Jahre hindurch aufbewahrt. Sind
diese verflossen, so muß er annehmen, daß der Errichter
desselben gestorben sei, und hat das Testament ex oküeio
zu öffnen und bekannt zu machen."
Nach dieser Auseinandersetzung mußte mau sich nun
allerdings für die Möglichkeit entscheiden, daß Vorndorf
sein Testament in einer Weise untergebracht habe, welche
es jetzt ganz unauffindbar machte, wenn es nicht ge-
lingen sollte, all feinen auch noch fo flüchtigen Auf-
enthaltsorten nachzuspüren im Laufe jener Zeit, aus
welcher fein von Derschau erwähuter, nach Vera-Cruz
geschriebener Brief stammte. Aber man hatte dazu ja
nicht einmal den Anhalt, daß man wußte, aus welcher
Zeit dieser Brief herrührte, zunächst war also nichts zu
thun, als Derschau nm nähere Auskunft über diesen Punkt
anzugehen, falls es ihm möglich wurde, es aus den
Briefschaften klar zu stellen, von denen er dem Baron

Heft 25.
geschrieben hatte. So mußte der Baron denn seinem
ersten eben abgegangenen Briefe an Derschau sofort einen
zweiten folgen lassen.
Die nächsten Tage vergingen auf Bellersheim in der
erregten Spannung auf Nachrichten, auf Nachrichten
von Derschau und über die Wirkungen, welche die ihm
gegebenen Aufklärungen auf Hermine Branco geübt haben
mußten; dann aber auch aus Nachrichten von Rudolph
— daß er den Seinen daheim nichts schrieb, sie nichts
von seiner Abreise von Nom wissen ließ, war unbegreif-
lich; es war doch auch in dem, was er, wie Derschau
geschrieben, aus den von Hermine Branco ihm mit-
getheilten Papieren erfahren, genug vorhanden, was er
deni Baron sogleich mitzutheilen sich verpflichtet fühlen
mußte. Und dennoch schwieg er und war wie verschwun-
den, verschollen — auch von Spesser tauchte ja kein
Lebenszeichen aus; es war in der That, als ob die bei-
den Männer sich einander den Garaus gemacht und von
der Erde vertilgt hätten!
Die traurigen Ueberreste Branco's wurden auf An-
weisung des Gerichtsraths in der Stille in geweihter
Erde bestattet. Die zn ihrer Untersuchung aufgeforder-
ten Aerzte hatten sie in einem Zustande gefunden, worin
sich über die Todesursache nichts mehr feststellen ließ —
sie mußten, mit Bertha's Aussage in Uebereinstimmung,
sich an die Annahme halten, daß ter Schlag, den Gott-
fried Merk gegen seinen Angreifer geführt, bei diesem
einen Nervenschlag herbeigeführt oder eine Blutergießung
im Gehirn veranlaßt habe, die durch eine konstitutio-
nelle Anlage Branco's ermöglicht worden. Bei der Be-
stattung war Otto Frank zugegen, und neben einigen
anderen Personen fehlte auch Herr Kürbisser, der Gendarm,
dabei nicht. Otto Frank schlug mit ihm den Heimweg
vom Friedhöfe ein, und gegen diesen, den Staatsanwalts-
Substituten, war Herr Kürbisser natürlich offenherziger,
als gegen andere Menschenkinder. Er selbst war vom
Gerichtsrath über die erste Auffindung der Leiche ver-
nommen worden und nicht ganz ohne Sorge, in wie-
fern ihm das bisherige Verschweigen dieser Thatsache amt-
lichen Verdruß bereiten könne, trotzdem daß er nur dem
Befehl Spesser's gehorcht hatte. „Ich habe Last und
Mühe und Unruhe genug von der Sache gehabt," sagte
er, „und nun noch mit Verweisen oder Ordnungsstrafen
dafür belohnt zu werden, wäre doch gar zu bitter!"
„Was Ihnen doch begegnen könnte," meinte Frank.
„Sie stehen unter dem militärischen Vorgesetzten, was
Ihre Führung, Ihre Beförderung u. s. w. angeht; mit
Ihren eigentlichen Dienstleistungen und Dienstpflichten
aber sind Sie der bürgerlichen Behörde zugewiesen, und
dieser hätten Sie Meldung zu machen gehabt. . ."
„Wohl wahr," siel Kürbisser ein; „was Niemand
kann, muß der Gendarm können, zwei Herren dienen ..."
„Sie haben nur zu sehr Einem Herrn gedient, Ihren!
Herrn v. Spesser, als er seinen Dienstkrels überschritt
nnd sich selbst zu etwas wie einem Untersuchungsrichter-
mächte, was seines Amtes nicht war!"
„Darüber kann ich, der Untergebene, doch nicht ur-
theilen. Aber Sie mögen Recht haben, Herr v. Spesser
hat das ja nun auch eingesehen, daß er die Sache nicht
länger in Händen behalten dürfe, und darum die An-
zeige gemacht."
„Herr v. Spesser?"
„Wußten Sie das nicht?"
„Ich dachte mir freilich, daß die Denunziation von
ihm ausgegangen sein müsse. Eine Andeutung darüber-
hatte ich nicht. Dem Baron Bellersheim hat der Ge-
richtsrath es auf feine Frage nicht mittheilen wollen,
von wem der Anstoß zu der plötzlichen Untersuchung
ausgegangen."
„Es Ist fo, wie ich sage," versetzte Kürbisser, „mir
hat der Gerichtsrath ein Schriftstück von der Hand des
Hauptmanns, worin Alles angegeben schien, gezeigt, und
mir eine Stelle, worin von meinen Ermittelungen die
Rede war, vorgelesen. Er vernahm mich darüber, ob
dem Allen fo sei? Es sei von meinem Vorgesetzten aus
Italien eingesendet, sagte er."
„Aus Italien — und haben Sie das Datum dieser
Schrift sich gemerkt?"
„Nein, das nicht; auf meine Frage nach dem Grunde,
weshalb der Herr Hauptmann gerade jetzt die Anzeige
gemacht, gab mir der Gerichtsrath nur die Auskunft, er
babe wahrgenommen, daß Rudolph Merk sich durch die
Flucht ihm habe entziehen wollen, sei ihm, um ihn nicht
aus den Augen zu lassen, augenblicklich nachgereist und
habe in Mailand doch seine Spur verloren. Deshalb
habe er jetzt von dein ganzen Handel geglaubt schleunig
Anzeige machen zu müssen, damit das Gericht steckbrief-
liche Verfolgung veranlasse."
„In der That!" rief Frank überrascht aus, „das
siud ja ganz unvermuthete Aufschlüsse, die Jhuen der
Gerichtsrath gegeben hat. Nun freilich, weshalb Ihnen
nicht, der so tief eiugeweiht war? Mir geben Sie da-
mit eine große Beruhigung. An eine steckbriefliche Ver-
folgung wird das Gericht nicht denken. Aber ich weis;
doch jetzt, daß dieser verschwundene Herr v. Spesser sich
— wohlauf befindet! Wohlauf genug, um lauge und
boshafte Denunziationen zu schreiben!"
„Das," versetzte Kürbisser, „dürfen Sie ihn! doch
 
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