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as Buch für Alle.

schon, Pippo," entgegnete er dann, „nur mußt du
dabei nicht vergessen, daß solche Sachen nicht so rasch
gehen. Es fällt kein Baum auf einen Streich, und ge-
rade der Commendatore ist ein Zäher. Er muß sich
eben erst allmählich an den Gedanken gewöhnen. Ist
Giovanna in: Theater?"
„Ja, Herr Marchese. Im Costanzi-Theater. Man
giebt heute ein neues Ballett."
„Hm. Ich werde sehen, daß ich sie dort noch
treffe."
„O natürlich treffen Sie sie noch dort. Die Vor-
stellung dauert sicher bis nach Mitternacht."
Der Marchese hatte keine Uhr. Diese Zeiten waren
für ihn längst vorüber. Er trug nur eine kleine,
schwarze Kette, die er in der Westentasche festgehakt
hatte. Aber in den: Garderobezimmer hing eine kleine
Wanduhr, nach der er jetzt sah. Die Uhr zeigte drei-
viertel Neun.
„Müde, Pippo?" fragte Nodolfo herablassend, schon
zum Fortgehen bereit.
„Mein Gott, Herr Marchese, man wird alt und
schläft leicht ein. Wenn es nur der Herr nicht ge-
merkt hat. Er wird immer gleich so grob."
„Keine Angst. Wenn ich übrigens erst mal was
zu sagen hätte in: Palazzo Righetti, so würden alte
verdiente Diener, wie du, nicht mehr so lange Dienst
haben. Mußt du auf die Signorina warten?"
„Natürlich. Es wird wohl Eins werden."
„Nun, hoffentlich wird das bald anders. Gute
Nacht, Pippo."
„Gute Nacht, Herr Marchese."
Als Pippo wieder allein war, setzte er sich neuer-
dings in seinen: Sessel zurecht, faltete die Hände über
den: Leib und streckte die Beine aus. Tn das Garde-
robezimmer ein sogenanntes Jnterno war, das heißt
ein Raun:, der im Inneren des Hauses, nach der Hof-
front zu lag, während die Herrschaftszimmer nach der
Straße gingen, so mar es hier sehr still. Man hörte
vom Straßenlärm nichts, da ja außer den Vorder-
zimmern auch noch der breite Korridor dazwischen lag,
der auch den Schall dämpfte. Nur das leise Ticktack
der kleinen Wanduhr hörte man im Garderobezimmer,
und das störte den Alten nicht. Schon nach kurzer
Zeit schlief er wieder den Schlaf des Gerechten.
Allein auch der Schlaf der Gerechten verfällt in
dieser niederen Welt der Tücke des Schicksals. Kaum
war der biedere Pippo sanft eingenickt — wenigstens
meinte er, daß es „kaum" gewesen sei, weil er sich
bereits in dein Zustand befand, in dein der Mensch
keine klare Vorstellung von Raun: und Zeit mehr hat
— so legte schon wieder jemand die Hand auf seine
Schulter. Diesmal war es der Untersuchungsrichter
Morosi. Pippo mußte also doch schon wieder fest ge-
schlafen Habei:, da er die Thür nicht hatte gehen hören.
Der Untersuchungsrichter war ohne Hut und Mantel
— er wohnte ja in demselben Haus — und offenbar
in höchster Aufregung.
„Ist Commendatore Righetti zu Haufe?" fragte er
wie außer Atem.
Pippo sprang trotz seiner Schlaftrunkenheit sofort
auf. „Ja, er ist zu Hause, Herr Untersuchungsrichter,"
antwortete er etwas verwirrt.
„Bitte, geben Sie ihm sofort diese Papiere, die
mir eben vom Ministerium zugestellt worden find, und
fragen Sie ihn, ob er mir für zwei Minuten Gehör
schenken will," hastete Morosi wie verzweifelt heraus,
indem er dem Diener ein aufgerissenes Amtsschreibei:
in einem großen, länglichen Couvert übergab.
Pippo nahm es, ging damit aus dein Garderobe-
zimmer über den Korridor weg, durch das Vorzimmer
seines Herrn hindurch und trat aus diesem in den
Salon des Commendatore ein.
Dieser saß ruhig am Karnin, rauchte eine Zigarette
und las die „Tribuna". Er ließ sich auch nicht stören,
als der Diener eintrat und drehte sich nicht einmal
nach ihn: um.
„Herr Commendatore, Sie werden entschuldigen,
wenn ich störe," sagte Pippo. „Untersuchungsrichter
Morosi gab mir dies Schreiben, das ihn: soeben vom
Ministerium zugestellt worden ist, und läßt fragen, ob
Sie ihm auf zwei Minuten Gehör schenken möchten."
Etwas erstaunt, aber keineswegs unwillig über die
Störung, nahm Righetti das Schreiben und sah es
flüchtig durch. Es war eine Verfügung des Ministe-
riums, durch die Morosi „bis auf weiteres" vom Amte
suspendiert wurde. Natürlich hatte ihn das in große
Aufregung versetzt, und ii: der Not kam er nun zu
ihm, um ihn um seine Verwendung zu bitten. Das
sah der Commendatore alles ganz gut und klar ein,
wenn er auch nocb nicht wußte, in welcher Weise er
dem bedrängten Manne helfen könnte.
Gleichwohl sagte er zu den: Diener: „Bitten Sie
den Herrn Untersuchungsrichter, hier einzutreten."
Pippo ging, um seinen Auftrag auszurichten. Er-
fand Morosi noch in dem Garderobezimmer, wo er wie
verzweifelt zu Boden starrte.
„Herr Righetti erwartet Sie," sagte Pippo, und
Morosi trat nun rasch bei diesem ein.

„Zwei Minuten!" murmelte Pippo gähnend. „Wer
weiß, wie viele daraus werden. Das kennt man
schon."
Der alte Mann konnte sich des Schlafes nicht er-
wehren. Es dauerte nicht einmal zwei Minuten, als
er schon wieder in seinem Sessel lag und schlief; nur
noch einmal fuhr er erschrocken auf. Es war ihm,
als wenn eine Thür stark zugeschlagen worden wäre;
ein starker Schlag oder Knall drang bis zu ihm in
das Garderobezimmer, da aber daraufhin alles still
und stumm blieb, so schlief er bald wieder weiter.

Wenrrtes Kapitell.
Das neue Ballett war wirklich großartig, und
Giovanna amüsierte sich in den: großen Prunktheater
Costanzi ausgezeichnet. Es war eine Pantomime,
„Brahma" betitelt, ii: mehreren Akten, nut wunder-
baren Dekorationen, Kostümen und herrlicher Musik.
Der indische Gott Brahma wird darin aus seinem
Himmel verstoßen, um sich auf der Erde als Mensch
unter Menschen die Liebe eines solchen zu erringen,
wodurch er dann wieder seine Gottheit erlangt und in:
Himmel Aufnahme findet. Was mußte der strahlend-
schöne Gott in der niederen Menschenhülle alles von
der Dummheit und Niedertracht, von Geiz und Hab-
gier, Kurzsichtigkeit und Hinterlist der Menschen lei-
den, ehe es ihm gelang, durch die Liebe eines Weibes
erlöst, seinen Himmel wieder zu erobern!
Giovanna folgte der Darstellung mit einer Auf-
merksamkeit, die es ihr ganz unmöglich machte, auf die
Redensarten des Marchesino acht zu geben, der sich
gegen Schluß der Vorstellung, als die Erwartung aufs
höchste stieg, in ihrer Loge einfand. Sie hörte nur
so viel aus seinen erregten, hastigen Worten, daß er
mit ihren: Vater gesprochen und daß dieser seine Bitte
nut Wohlwollen ausgenommen habe. Nach dem, was
sie von ihren: Vater über diese Angelegenheit gehört,
wenn es auch nur kurze, abgerissene Worte gewesen
waren, hätte sie eine ganz andere Antwort vorausgesetzt.
Aber zu diesen Erörterungen würde ja wohl später
noch Zeit sein, dachte sie, und ließ den Marchesino
schwatzen, überließ ihm sogar eine Weile ihre Hand,
die sie ihn: erst wieder entzog, als er ihr zu aufdring-
lich zärtlich wurde.
Nodolfo brachte sie am Schluß der Vorstellung bis
an ihren Wagen und wünschte ihr mit schwärmerischem
Augenaufschlag gute Nacht. Giovanna sah das nicht.
Es war, als ob sie von den: Glanz und der Pracht,
den: elektrischen Licht der Vorstellung noch geblendet
sei. Immer noch sah sie den Gott Brahma, wie er
in Kämpfen und Gefahren seiner Erdenpilgerfahrt
nach Liebe sucht und endlich, als man ihn zum Tode
führt, durch die Liebe einer armen Sklavin, die ihm
in den Tod folgen will, erlöst, in der Schlußapotheose
wieder in seinen: Himmel thront als mächtiger, herrschen-
der Gott, dem alles zu Füßen liegt. Was war es
eigentlich, das Giovanna an diesen entlegenen, weit her-
geholten Vorgängen so packte? Was war ihr der in-
dische Gott Brahma mitsamt der Märchendichtung eines
fremden Volkes? War in ihren: Gemüt ein Echo,
eine verwandte Stimme, die, von all diesen Kämpfen
und Leiden erregt, antwortete?
Giovanna wußte es nicht, dachte wohl auch nicht
darüber nach. Nur so viel war sicher, daß die Vor-
stellung ihr junges empfängliches Gemüt aufs höchste
erregt hatte.
Es ivar fast ein Uhr, als sie nach Hause kam.
Sie hörte, als sie Re Treppe hinaufging, wie das
große Hausthor nun zugeschlossen wurde. Man hatte
nur auf sie gewartet. Als sie hinaufkam, schlief Pippo
noch immer.
„Pippo! Pippo!" rief sie laut, indem sie ihren
Mantel abwarf. „Wo ist Marietta?"
Der Diener suhr rasch auf. „Marietta?" sagte er
noch halb im Schlaf. „Mein Gott, wo wird das
Mädchen sein, Signorina? Im Bett wird sie sein."
„Sie soll mir eine Tasse Thee machen und in mein
Zimmer bringen. Hören Sie? Ist Papa noch wach?"
„Der Herr Commendatore?" wiederholte Pippo
langsam, als ob er sich erst besinnen müsse. „Ja, der
Herr Commendatore wird wohl noch in seinen: Salon
sein."
„Gut, also Thee, Pippo. Ich falle um vor Durst.
Laufen Sie. Marietta soll sich eilen."
Erregt, wie sie nun einmal war, rasch, beweglich,
wie ein sorglos übermütiges Kind, das die ganze Welt
noch für einen lustigen Spaß hält, trat sie bei ihren:
Vater ein.
Righetti saß noch immer in seinen: Sessel an: Ka-
min. Das Feuer war heruntergebrannt, auch die Zei-
tung, in der er gelesen, ivar ihn: entfallen, aber er-
hielt sie noch fest in der herabgesunkenen Hand und
schien eingeschlafen zu sein.
„Papa, Papa!" rief Giovanna ihn: entgegen.
„Aber heut' war's prächtig in: Costanzi. Wie schade,
daß du nicht dabei warst. Brah—"
Plötzlich stockte sie. Das Wort blieb ihr buchstäb-

lich in der Kehle stecken, ihre Augen öffneten sich un-
natürlich weit, ihre Lippen wurden bleich und blut-
leer, und ein Zittern überlief ihren ganzen Körper.
Wie gelähmt vor Schreck, als ob sie ein Medusenhaupt
erblickt habe, wie herabgestürzt aus allen ihren Him-
meln auf eine fürchterliche, schreckliche Welt, stand
Giovanna — vor der Leiche ihres Vaters.
In sich zusammengesunken, mit erdfahlem Gesicht,
offenen, verglasten Augen und eingefallenen Wangei:
lag der Commendatore in seinem Sessel. Zwischen
den Lippen hielt er noch den kleinen, halbverkohlten
Rest einer Zigarette, das linke Ohr war schwarz und
mit geronnenem Blut vollständig gefüllt. Auch über
die linke Wange und den Hals waren bis in den
Hemdkragen hinein einige Blutstropfen gesickert und
hatten dünne, schwärzlich-rote Spuren auf der Haut
hinterlassen. Neben ihm auf dem Teppich lag ein
kleiner Taschenrevolver, ein wahres Spielzeug, zierlich
und blitzend, ein Ding, mit dem man keine zehn
Schritte weit schießen kann, aber es hatte offenbar
genügt, um aus dem Commendatore einen stillen Mann
zu machen.
„Papa!" schrie Giovanna nochmals entsetzt und
verzweifelt, offenbar noch immer unfähig, einen klaren
Gedanken zu fassen oder sich auch nur dessen, was sie
sah, recht bewußt zu werden. Unwillkürlich suhr sie
mit den Händen nach ihn: hin; ohne zu wissen, was
sie that, rüttelte sie an seinen Schultern, als ob sie
ihn dadurch aufwecken könne. Statt dessen rutschte der
Körper Righettis durch diese Berührung von: Sessel
herunter und fiel steif und unbeholfen auf den Teppich
nieder. Das sah grauenhaft aus, und so natürlich es
immerhin zugehen mochte, daß ein toter Körper bei ge-
wissen Berührungen durch die eigene Schwere zusam-
mensinkt, so gräßlich war der Anblick, den dieser
Vorgang Giovanna gewährte. Sie schrie laut und
schrill nach Hilfe.
Zuerst eilte der alte Pippo herbei. Als er in den
Salon stürzte, sah er, wie sich Giovanna abmühte,
den Leichnam emporzurichten. Sie kam aber damit
nicht zu stände, denn der Körper war für ihre zarten
Kräfte viel zu schwer.
„Heiligste Madonna," rief der alte Mann erschrocken
aus, „was ist geschehen, Signorina?"
„Weiß ich's? Ich fand Papa so. Helfen Sie
mir, Pippo."
Der alte Diener hob den leblosen Körper des
Commendatore auf, indem er ihn unter den Schultern
umspannte, und legte ihn auf ein Schlafsofa, das im
Salon stand. Während er noch damit beschäftigt
war, erschien auch der Thürsteher, der, während er
unten im Hausgang noch mit dem Schließen des
Thores beschäftigt gewesen war, das Hilferufen Gio-
vannas gehört hatte. Hinter ihm tauchte die Kammer-
zofe Marietta auf, die direkt aus dem Bett kam und
nur notdürftig bekleidet war.
Der Thürhüter schien noch am meisten Ueberlegung
zu haben. „Rasch, Marietta, eilen Sie zum Arzt,"
sagte er zu der Zofe.
Dann nähertretend, sah er, daß der Commendatore
tot ivar.
„Man muß den Delegatoholen," rief er darauf-
hin und eilte auch sofort selbst davon.
Giovanna stand wie versteinert und sah mit starren
Augen zu, wie der Diener den Körper ihres Vaters
auf das Sofa legte, wie der Kopf dabei zwischen den
Schultern herabhing und die Beine hilflos an: Boden
schleiften. Es war ein trostloser Anblick, aber es
schien, als ob sie noch gar nicht begreifen könne, um
was es sich handelte. Noch immer war es ihr, als
müsse ihr Vater gleich wieder aufstehen, auf sie zu-
kommen und ihr lächelnd die Hand bieten.
Als das aber nicht geschah, und sie sich nun end-
lich der wirklichen Sachlage bewußt wurde, da stöhnte
sie qualvoll auf, preßte die Hände fest vor die Augen
und rief unzähligemal: „O mein Gott, o mein
Gott!"
Taumelnd machte sie einige Schritte gegen das
Lager hin; Marietta sprang herzu, um sie zu stützen,
sonst wäre sie gefallen. Dann ging sie zitternd und
zuckend bis zu dem Sofa, wo ihr"Vater lag, und brckh
laut aufschreiend und bitterlich weinend vor seiner
Leiche zusammen. — —
So lag sie noch, als der Thürhüter nut dein Po-
lizeikommissar und zwei untergeordneten Beamten der
öffentlichen Sicherheit eintrat.
Der Kommissar ließ sich zunächst von Pippo er-
zählen, was er von der Sache wußte. Es war nicht
viel. Er hatte ja die meiste Zeit geschlafen, erwähnte
aber doch, daß der Commendatore noch ziemlich spät
zwei Besuche erhalten habe, nämlich den des Marchese
de Rossi und des Untersuchungsrichters Morosi. Ersteren
hatte er noch fortgehen sehen, letzteren nicht. Jeden-
falls hatte er also zu dieser Zeit schon wieder geschlafen.
Dann war er von Giovanna geweckt worden, als sie

*) Der Titel: Ools^ato cki pubbliea sieurorrn entspricht
unserem „Peüizeikmnmissnr".
 
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